Die Vorkämpferin [1]
Zum 80. Geburtstag von Ingrid Matthäus-Maier

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Nach ihrem Austritt aus der FDP wollte Ingrid Matthäus-Maier wieder als Richterin arbeiten, doch Willy Brandt überzeugte sie, ihre politische Karriere in der SPD fortzusetzen (Foto: J.H. Darchinger, Archiv: IMM)
Sie war die erste weibliche Vorsitzende der Jugendorganisation einer Bundestagspartei, die erste Frau, die einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss leitete, die erste Abgeordnete, der das »goldene Mikrofon« für die beste Bundestagsrede verliehen wurde, die erste Frau an der Spitze einer deutschen Großbank: Am heutigen 9. September feiert Ingrid Matthäus-Maier (gbs-Beirätin und Mitgründerin des »Instituts für Weltanschauungsrecht«) ihren 80. Geburtstag.
Trotz der vielen Spitzenämter, die sie in ihrer Karriere bekleidete, ist Ingrid Matthäus-Maier stets bodenständig geblieben – ein Erbe ihrer Kindheit unter »echten Malochern im Ruhrgebiet«. Geboren wurde sie am 9. September 1945 in Werlte (Emsland), wohin die Eltern in den letzten Kriegsmonaten evakuiert wurden, doch bald zog die Familie zurück nach Krefeld und von dort einige Jahre später nach Mülheim an der Ruhr. Nach dem Abitur studierte Ingrid Matthäus zunächst Geschichte, Romanistik und Politologie, wechselte dann aber schnell zu Jura, weil sie etwas »Handfestes« wollte, um ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. In dieser Zeit traf sie auch ihren späteren Mann Robert Maier. Gemeinsam engagierten sie sich in der APO, beteiligen sich an Demonstrationen und Versammlungen. Doch in ihren politischen Überzeugungen unterschieden sie sich von vielen Kommilitoninnen und Kommilitonen der 68er-Bewegung, denn Ingrid und Robert waren sowohl links als auch liberal, kämpften nicht nur für Gleichheit, sondern auch für Freiheit.
Als »Sozialliberale der ersten Stunde« gelang es ihnen, den ersten »sozialliberalen AStA« an der Uni Münster zu bilden, der zuvor von »schlagenden Verbindungen« dominiert worden war. Exakt an dem Tag, an dem Willy Brandt zum Kanzler gewählt wurde, traten Ingrid und Robert in die FDP ein, da die sozialliberale Koalition auf die FDP als »Zünglein an der Waage« angewiesen war. Zu diesem Zeitpunkt gab es einen Umbruch in der Partei, in der vor kurzem noch Nationalkonservative den Ton angegeben hatten, in der aber nun junge progressive Kräfte viel bewegen konnten. Dies zeigte sich auch darin, dass die Liberalen über die wohl kreativste Jugendorganisation aller Bundestagsparteien verfügten, die »Jungdemokraten«, die später von den deutlich konservativeren »Jungen Liberalen« (JuLis) abgelöst wurden.
»Freie Kirche im freien Staat«
Robert wurde 1971 Vorsitzender der Jungdemokraten NRW, Ingrid 1972 Vorsitzende der Bundesorganisation. Im gleichen Jahr wurde Ingrid Mitglied des FDP-Bundesvorstandes. Ihr erster politischer Erfolg war das Positionspapier »Freie Kirche im freien Staat«, das sie zusammen mit der erfahrenen FDP-Politikerin (und EKD-Synodalen) Liselotte Funcke verfasst hatte und das 1974 durch den FDP-Parteitag bestätigt wurde. Erstmals in der Geschichte bekannte sich damit eine Bundestagspartei zur strikten Trennung von Staat und Kirche, zur Abschaffung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für die Kirchen, zur Ersetzung der Kirchensteuer durch ein kircheneigenes Beitragssystem, zur Ablösung der Staatsleistungen sowie zur Aufhebung der bestehenden Staatskirchenverträge und Konkordate – allesamt Forderungen, die bis heute, 50 Jahre später, noch immer nicht erfüllt sind!
Wie nicht anders zu erwarten, sorgte das FDP-Kirchenpapier in konservativen Kreisen für Entrüstung: So verlangte der Münsteraner Bischof Tenhumberg von der NRW-Landesregierung kategorisch, dem katholischen Theologen (und späteren Kirchenkritiker) Horst Herrmann, einem engen Freund von Ingrid und Robert, wegen dessen Eintretens für das Kirchenpapier im Fernsehen die Lehrerlaubnis an der theologischen Fakultät zu entziehen – was 1975 auch in die Tat umgesetzt wurde. Etwa zeitgleich versuchte der Präsident des Verwaltungsgerichts Münster, Ingrids Ernennung zur Verwaltungsrichterin trotz bester Noten zu verhindern. Grund war auch hier das FDP-Kirchenpapier. Doch der zuständige Präsident des Oberverwaltungsgerichts wies diese »unzulässige Einmischung« zurück.
Nach der Bundestagswahl 1976 zog Ingrid Matthäus-Maier als FDP-Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein, wodurch sich der Lebensmittelpunkt der Familie ins Rheinland verlagerte. Frauen gab es damals im Bonner Parlament nur sehr wenige – und junge Frauen (Ingrid war zum Zeitpunkt der Wahl 31 Jahre alt) schon gar nicht. Den gängigen Geschlechterstereotypen zufolge erwartete man, dass sie sich um »weiche« Themen wie Bildung, Erziehung, Kultur, Familie kümmerte, doch Ingrid zog, unterstützt von ihrer Co-Autorin Liselotte Funcke, das »harte« Finanzthema vor. Grund: »Wer über die Finanztöpfe entscheidet, hat Einfluss darauf, was später auf den Tisch kommt!«
Wegen ihrer markanten Frisur, die sich über die Jahrzehnte wenig änderte (die Haare wurden nur ein wenig kürzer), taufte sie die Presse etwas despektierlich »Prinzessin Eisenherz«. Aufgrund ihrer Sachkompetenz gewann sie aber zunehmend an Respekt, spätestens nachdem sie 1979 – im Alter von 34 Jahren – zur Vorsitzenden des mächtigen Finanzausschusses gewählt wurde. Im Jahr zuvor hatte sie ihre Tochter Helen zur Welt gebracht, 1980 folgte der Sohn Robert Matthäus (!) Maier – auch dies ein Novum im Deutschen Bundestag, denn Ingrid Matthäus-Maier war die erste Bundestagsabgeordnete, die ihre Kinder zwischen den Sitzungen stillte und damit belegte, dass sich der Beruf der Politikerin sehr wohl mit dem Muttersein verbinden lässt.
Widerstand gegen die »geistig-moralische Wende«
1982 kam es dann jedoch zu einem harten Bruch in der politischen Karriere von Ingrid Matthäus-Maier – es war zugleich eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Nach 13 Jahren sozialliberaler Koalition verließ die FDP unter Führung von Hans-Dietrich Genscher das Regierungsbündnis mit Kanzler Helmut Schmidt (SPD) und verschaffte Helmut Kohl (CDU), der nach den progressiven 1970er Jahren eine »geistig-moralische Wende« einleiten wollte, die notwendigen Stimmen zur Kanzlerschaft. Damit war genau das eingetreten, was Ingrid und Robert befürchtet hatten: Die Konservativen innerhalb der FDP hatten Oberhand gewonnen.
Matthäus-Maier, die wie kaum eine andere für den bürgerrechtsorientierten, sozialen Liberalismus gestanden hatte, sah unter diesen Voraussetzungen keine Möglichkeiten mehr, ihre freiheitliche Agenda weiterzuverfolgen. Und so trat sie beim hochdramatischen 33. Bundesparteitag der FDP im November 1982 ans Rednerpult, um ihren sofortigen Austritt aus der Partei sowie die Niederlegung sämtlicher Ämter zu verkünden. Während sie sprach, stapelte ihr Mann Robert einen Haufen Parteibücher ausgetretener Mitglieder vor Genscher auf. In den nachfolgenden Wochen verließ jedes vierte Mitglied die FDP, in den darauf folgenden Wahlen stürzte die Partei in mehreren Länderparlamenten unter die 5-Prozent-Hürde.
Nach der Aufgabe ihres Bundestagsmandats arbeitete Ingrid wieder als Verwaltungsrichterin. Von einer neuen politischen Funktion wollte sie zunächst nichts wissen, doch zwei zentrale Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie, Willy Brandt und Johannes Rau, überzeugten sie davon, für die SPD zu kandidieren. 1983 zog sie erstmals für die Sozialdemokraten in den Deutschen Bundestag ein. Fünf Jahre später wurde sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende und finanzpolitische Sprecherin der Partei. Dabei vertrat sie als SPD-Politikerin die gleichen sozialliberalen Positionen, für die sie sich zuvor als FDP-Abgeordnete stark gemacht hatte, was mitunter zu Irritationen führte. Doch Ingrid Matthäus-Maier hatte stets gute Argumente dafür, wenn sie gegen ihre eigene Fraktion stimmte: »Laut Verfassung sind die Abgeordneten dem Wohl des gesamten Volkes verpflichtet – nicht dem Wohl ihrer Partei. Daher sollten sie den Mut aufbringen, nach bestem Wissen und Gewissen selbst zu entscheiden, statt blind den Vorgaben der eigenen Fraktion zu folgen.«
Von der KfW zur gbs
1999 wechselte Ingrid Matthäus-Maier in den Vorstand der »Kreditanstalt für Wiederaufbau« (KfW), wo sie im Dezember 2005 zur Vorstandssprecherin gewählt wurde. Die Arbeit in der weltweit größten nationalen Förderbank stellte eine willkommene Herausforderung dar. Noch heute freut sie sich, wenn sie durch Ostdeutschland fährt und die vielen sanierten Häuser und Infrastruktureinrichtungen sieht, die nur durch KfW-Kredite finanziert werden konnten. Ebenso wichtig ist ihr, dass die KfW in ihrer Zeit zum international bedeutendsten Finanzierer von »Mikrokrediten« wurde, was vor allem Frauen in den Entwicklungsländern geholfen hat.
Matthäus-Maier brachte frischen Wind in die Nadelstreifen-Welt der Topbanker. »Endlich mal ein Mensch an der Spitze dieser Kreditmaschinen«, formulierte es damals ein Frankfurter Finanzexperte. Doch die Bankenkrise 2007/2008 bereitete dieser Ära ein jähes Ende. Zwar hatte sich die staatliche KfW keineswegs verzockt, wohl aber die private IKB-Bank (Deutsche Industriebank), bei der die KfW große Anteile hielt. Ingrid war zwar nicht in die Gremien der IKB involviert, sollte aber die Verantwortung für deren Missmanagement tragen. Die politischen Störmanöver wurden so massiv, dass Ingrid sich genötigt sah, im April 2008 von ihrem Vorstandsposten zurückzutreten.
Danach brauchte sie zunächst ein wenig Ruhe, doch schon Anfang 2009 trat sie in den Förderkreis der Giordano-Bruno-Stiftung ein – zusammen mit ihrer gesamten Familie (etwas, das in der gbs-Geschichte nicht gerade häufig vorgekommen ist). Und selbstverständlich blieben Ingrid und Robert nicht bloß passive Mitglieder der Stiftung, sondern übernahmen schnell wichtige Funktionen in Kuratorium und Beirat. Während Robert den Vorstand bei der Weiterentwicklung der Stiftung beriet, eroberte Ingrid die Podien als humanistische Vorkämpferin: 2010 leitete sie die Pressekonferenz des Vereins ehemaliger Heimkinder im Haus der Bundespressekonferenz. Wenig später engagierte sie sich in der »Kampagne zur Ablösung der historischen Staatsleistungen an die Kirchen«, ein Thema, das sie schon beim FDP-Kirchenpapier auf den Punkt gebracht hatte. Ab 2012 war sie als Sprecherin der »Kampagne gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz« aktiv, (GerDiA), ab 2014 zudem als Sprecherin der Sterbehilfe-Kampagne »Mein Ende gehört mir!«
2016 zog Ingrid als Vertreterin der Konfessionsfreien in den WDR-Rundfunkrat, wo sie wenig später zur stellvertretenden Vorsitzenden des Finanzausschusses gewählt wurde. 2017 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des »Instituts für Weltanschauungsrecht« (ifw), 2018 zählte sie zu den Referent*innen der »Säkularen Woche der Menschenrechte« anlässlich des 70. Jubiläums der Verabschiedung der UN-Menschenrechtserklärung und 2019 stand sie im Mittelpunkt des großen ifw-Festakts zum 70. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes.
Es gibt wohl keinen größeren Fan des Grundgesetzes als Ingrid Matthäus-Maier. Bei ihren Vorträgen hat sie stets Exemplare des Verfassungstextes dabei, um sie im Publikum zu verteilen: »Den meisten ist gar nicht bewusst, wie hervorragend die deutsche Verfassung im internationalen Vergleich ist. Es gibt weltweit kaum etwas Besseres. Leider aber hinkt die deutsche Verfassungswirklichkeit, also die gesellschaftliche und politische Realität, dem Verfassungstext weit hinterher. In dieser Hinsicht gibt es – trotz der Erfolge der letzten Jahre – noch immer viel zu tun!«
Auch mit 80 Jahren weiterhin engagiert
»Wir gratulieren Ingrid herzlich zu ihrem 80. Geburtstag, danken ihr für die großartige Unterstützung in den letzten 16 Jahren und freuen uns darüber, dass sie weiterhin so engagiert an unserer Seite steht!«, sagt gbs-Vorstand Michael Schmidt-Salomon. »Ihre Vitalität, Bodenständigkeit und politische Weitsicht sind ebenso einzigartig wie ihr rheinischer Humor. Wenn sie etwas zusagt, kann man sich hundertprozentig darauf verlassen, dass es hochprofessionell umgesetzt wird!«
Im aktuellen Jahr begleitete Ingrid Matthäus-Maier u.a. die subversiv-ironische Vorstellung eines alternativen Kirchentagsvereins [3] in Düsseldorf. Im Oktober wird sie Podiumsgast der fowid-Tagung »Auf dem Weg in die säkulare Gesellschaft« [4]sein und über die politischen Folgen der Säkularisierung diskutieren.