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Ein unermüdlicher Streiter für die Freiheit [1]

Nachruf auf Ludwig A. Minelli

02.12.2025

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Ludwig A. Minelli (1932-2025) im Februar 2020 nach dem Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht (Foto: M. Reich)

Der Schweizer DIGNITAS-Gründer, gbs- und ifw-Beirat Ludwig A. Minelli starb am vergangenen Samstag so, wie er gelebt hatte: selbstbestimmt. Michael Schmidt-Salomon erinnert an seinen Stiftungskollegen, langjährigen Mitstreiter und Freund.

»Meinetwegen. Episoden eines glücklichen, bewegten und bewegenden Lebens« lautet der Titel der Autobiografie, an der Ludwig A. Minelli in den letzten Monaten gearbeitet hat. Ein voluminöses Werk mit 846 Seiten, das ebenso ungewöhnlich und eigensinnig ist, wie es sein Verfasser war. Vico, wie ich ihn nennen durfte, hat mir das Manuskript am 24. November zugeschickt, fünf Tage vor seinem Freitod am 29. November. In seiner Begleitmail bedankte er sich nicht nur für unsere Freundschaft, die ihm »stets besonders wertvoll« gewesen sei, sondern teilte mit, dass er infolge einer fortschreitenden Krebserkrankung gedenke, sich in Bälde »von dieser Welt zu verabschieden«. Ich schrieb ihm zurück, dass ich ihn sehr vermissen werde, auch wenn es ein kleiner Trost sei, dass er »mit dieser schwierigen Situation sicherlich sehr viel gelassener umgehen« wird als die allermeisten von uns.

Ich bin Vico das erste Mal vor rund 20 Jahren begegnet. Er hatte mich nach einem meiner Vorträge in der Schweiz in ein nobles Berner Restaurant eingeladen. Nach dem obligaten, wenn auch platten Witz, dass ich mit ihm gerne ein Glas Wein, aber keinen Cocktail trinken würde (angesichts des »Sterbe-Cocktails«, den DIGNITAS damals verabreichte), entwickelte sich ein ebenso amüsantes wie spannendes Gespräch, bei dem mir schnell klarwurde, dass dieser »berühmt-berüchtigte Herr Minelli« sehr viel mehr war als nur der Gründer einer Schweizer Sterbehilfeorganisation. Vico war äußerst gewitzt und belesen, konnte aus dem Kopf ganze Passagen von Schopenhauer und Feuerbach zitieren und auch unzählige Verse von Heinrich Heine, Wilhelm Busch oder Georg Kreisler – eine Fähigkeit, die ich an ihm stets bewundert habe und die er bis zum Lebensende beibehielt.

 
Vom Journalisten zum Menschenrechtsanwalt

Seine berufliche Laufbahn hatte Vico als Journalist begonnen, zunächst bei der Zürcher Tageszeitung »Die Tat«, später bei »United Press International« (1961–64) und beim »Spiegel« (1964–74). Als »Spiegel«-Korrespondent traf Vico viele bedeutende Zeitgenossen, u.a. Schriftsteller wie Friedrich Dürrenmatt oder Maler wie Oskar Kokoschka. So faszinierend dies auch war, ein Thema faszinierte ihn deutlich mehr, nämlich die »Europäische Menschenrechtskonvention« (EMRK), die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet, aber erst im November 1974 in der Schweiz ratifiziert wurde. Um der EMRK in seinem Heimatland (aber auch in anderen europäischen Ländern) zum Durchbruch zu verhelfen, gründete Vico 1978 die »Schweizerische Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention« (SGEMKO). Zwei Jahre zuvor (1976) hatte er als 44-Jähriger ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich begonnen, das er 1981 abschloss, um fortan als Rechtsanwalt, spezialisiert auf Menschenrechte, arbeiten zu können.

Schon vor seinem Jurastudium konnte er zwei maßgebliche Urteile zur Humanisierung des Strafvollzugs in der Schweiz erwirken, die heute als »Minelli I« und »Minelli II« bekannt sind, 1992 folgte »Minelli III« mit gleicher Zielrichtung. Vico war stets zur Stelle, wenn es darum ging, individuelle Selbstbestimmungsrechte gegen »staatliche Willkür« oder gegen paternalistische, meist von christlich-konservativen Überzeugungen geprägte Normvorstellungen zu verteidigen. So plädierte er u.a. für das »Recht auf Rausch« (etwa für die Legalisierung von Cannabis) sowie für die Freigabe jener »anstößigen« Literatur, die von religiösen Moralwächtern, über die er sich herrlich lustig machen konnte, als »pornografisch« eingestuft worden war.

 
Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben

Dass der Name »Ludwig A. Minelli« einmal mit dem Recht auf einen selbstbestimmten Tod verknüpft sein würde, war noch Mitte der 1990er Jahre nicht absehbar, sondern resultierte aus einer dramatisch verlaufenden Mitgliederversammlung der Schweizer Sterbehilfeorganisation »EXIT« im Mai 1998. Damals wollte EXIT-Geschäftsführer Peter Holenstein, den Vico als Rechtsberater unterstützte, den Verein dahingehend reformieren, dass dieser nicht nur Freitodbegleitungen ermöglicht, sondern auch Verzweiflungssuizide verhindert, was von den Vereinsmitgliedern jedoch heftig abgelehnt wurde. Noch in derselben Nacht gründete Vico mit einigen Gleichgesinnten den Verein »DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben«. Sein Erfolg besteht bis heute darin, nicht nur einigen Tausend Menschen zu einem würdevollen Tod verholfen, sondern noch deutlich mehr Menschen von Verzweiflungssuiziden abgehalten zu haben. Erfolgreiche Suizidprävention setzt nämlich voraus, dass man das Recht auf selbstbestimmtes Sterben akzeptiert und dabei, sofern möglich, Wege aufzeigt, die ein Weiterleben attraktiv machen könnten.

Dass DIGNITAS schnell über die Schweiz hinaus bekannt wurde, hängt mit einer ebenso mutigen wie folgenreichen Entscheidung zusammen: Im Unterschied zu EXIT ermöglicht DIGNITAS nämlich Freitodbegleitungen auch für Menschen aus dem Ausland! Konservative Kritiker kritisierten dies als »Sterbetourismus in die Schweiz«, was Vico jedoch postwendend auskonterte, indem er von »Freiheitstourismus in die Schweiz« sprach. Schließlich gehe es im Kern darum, dass diejenigen, die die Freiheit zu einem würdevollen, selbstbestimmten Tod in Anspruch nehmen wollten, aufgrund der restriktiven Gesetzgebung in ihren eigenen Ländern kaum etwas anderes tun könnten, als in die Schweiz zu reisen. Mit dieser Argumentation setzte Vico viele ausländische Regierungen unter Druck, was in mehreren Ländern (nicht zuletzt auch in Deutschland) eine intensive Debatte über »Selbstbestimmung am Lebensende« auslöste.

 
Das Recht auf Letzte Hilfe

Nach unserem ersten Gespräch in Bern hielten Vico und ich Kontakt, regelmäßig trafen wir uns nach meinen Vorträgen und Fernsehauftritten in der Schweiz. Zu einer engeren Zusammenarbeit kam es jedoch erst 2014, als publik wurde, dass die Regierung Merkel die »geschäftsmäßige Suizidassistenz« (eine herabwürdigende Bezeichnung für »professionelle Freitodbegleitungen«) verbieten wollte. Vico stand uns von Anfang an bei der Planung der Kampagne »Mein Ende gehört mir!« beratend zur Seite – und er war auch einer der Erstkorrektoren des Buchs »Letzte Hilfe. Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben«, das ich im Namen meines leider ebenfalls verstorbenen Freundes, des Arztes und Sterbehelfers Uwe-Christian Arnold, 2014 verfasst habe. Seither hat Vico jedes meiner Bücher vorab gelesen und in der Regel war er auch der Erste, der sich mit wertvollen Hinweisen zur Verbesserung des Textes rückmeldete.

Im Zuge der »Letzte Hilfe«-Kampagne beriefen wir Vico 2014 in den Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung, 2017 war er zudem einer der Gründungsmitglieder des »Instituts für Weltanschauungsrecht« (ifw), in dessen Beirat er sich seitdem engagierte. 2020 konnten wir gemeinsam einen großen Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht feiern – in einem Verfahren, an dem wir beide, Vico als Beschwerdeführer und ich als »Sachverständiger Dritter«, mitgewirkt hatten. Das »Karlsruher Urteil«, das mit 8 zu 0 Stimmen den »Sterbehilfeverhinderungsparagrafen« 217 StGB aufhob und das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende bekräftigte, gilt heute als eine der »Sternstunden« in der Geschichte des höchsten deutschen Gerichtes.

  
Wir werden ihn vermissen

Wenn ich an unsere 20-jährige Freundschaft zurückdenke, erscheint mir Vico in gewisser Weise als »Prototyp eines Schweizers«: freiheitsliebend, selbstbestimmt, hochallergisch gegenüber Paternalismus jeglicher Art, mitunter mit einer Eigensinnigkeit bewaffnet, die an Sturheit grenzte, die er jedoch im richtigen Moment mit seinem wunderbaren Humor aufheben konnte. In einer Hinsicht zeigte Vico jedoch kaum Gemeinsamkeiten mit seinem Heimatland, denn er war nur selten »neutral«. Wenn er ein Gerechtigkeitsproblem erkannt hatte, gleich ob in der Schweiz oder international, gab er nicht klein bei, sondern suchte unablässig nach Möglichkeiten, das Problem zu lösen. Mal benutzte er dazu den rhetorischen Vorschlaghammer, mal das juristische Skalpell. Seinetwegen, um auf den Titel seiner Autobiografie zurückzukommen, hat sich in der Tat einiges verändert. Er hat nicht nur ein bewegtes Leben geführt, sondern auch viel in Bewegung gebracht.

Dies betrifft auch mein eigenes Leben. Es gibt so vieles, was ich künftig vermissen werde – nicht nur seine hilfreichen Kommentare zu meinen Texten, sondern auch seine ungewöhnlichen Beiträge auf unseren Beiratstreffen, seine listigen Ideen, wie man die Prinzipien von Humanismus und Aufklärung weiter verbreiten könnte, seinen spitzbübischen Humor, seine Klugheit und auch die leckere Schokolade, die er so gerne aus der Schweiz mitbrachte und großzügig unter den Anwesenden verteilte. Wir werden Ludwig A. Minelli, diesen unermüdlichen, gewitzten, hartnäckigen Streiter für Freiheit und Gerechtigkeit, in liebevoller Erinnerung behalten.


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