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Triage: Wer soll zuerst behandelt werden?

Stellungnahme des Hans-Albert-Instituts kritisiert die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates

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Foto: Vidal Balielo Jr. / Pexels

Wessen Leben sollen Ärzte retten, wenn nicht mehr allen geholfen werden kann? Welche Kriterien dürfen bei der Auswahl herangezogen werden, welche sind unzulässig? Das Hans-Albert-Institut hat hierzu eine Stellungnahme veröffentlicht, die sich aus ethischer Perspektive mit Triage-Entscheidungen auseinandersetzt. Mögliche Implikationen ergeben sich daraus auch für die laufende Impfstrategie.

In einigen Staaten waren die Krankenhäuser wegen der vielen Corona-Infektionsfälle unlängst erneut überlastet. Beatmungsplätze und Personal reichten nicht mehr aus, um alle Menschen mit schweren Krankheitsverläufen intensivmedizinisch zu versorgen. Die Ärzteschaft musste daher die sogenannte "Triage" anwenden – also unter Zeitdruck entscheiden, welche Patienten behandelt werden und welche nicht.

Auch in Deutschland wurde und wird darüber diskutiert, wie knappe medizinische Ressourcen im Falle eines Massenandrangs gerecht zu verteilen sind. Ein solches Katastrophenszenario wird hierzulande im Kontext der Corona-Pandemie wahrscheinlich nicht eintreten, aber es ist nach Auffassung des (2020 von der gbs gegründeten) Hans-Albert-Instituts sinnvoll, ethisch und rechtlich "auf Vorrat zu denken", um für künftige Katastrophenfälle gewappnet zu sein.

 
Kritik der Empfehlung des Deutschen Ethikrats

Der Deutsche Ethikrat hat sich bereits im vergangenen Jahr mit einer "Ad-hoc-Empfehlung" zur Frage der Triage positioniert. Die heute veröffentlichte Stellungnahme des Hans-Albert-Instituts (HAI) setzt sich kritisch mit dieser Empfehlung auseinander. So argumentieren die Autoren und die Autorin des Instituts (Adriano Mannino, Marina Moreno, Florian Chefai, Nikil Mukerji, Thomas Metzinger, Franz-Josef Wetz und Dieter Birnbacher) entgegen der Ansicht des Ethikrates, dass die Lebenszeit eines Patienten sehr wohl ein ethisch legitimes und wichtiges Kriterium für die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen sei und daher berücksichtigt werden sollte.

Um dies zu gewährleisten, müsse man auch keineswegs, wie der Deutsche Ethikrat unterstellte, für einen "rein utilitaristischen Modus des Abwägens im Sinne einer bloßen Maximierung von Menschenleben oder Lebensjahren" eintreten, welcher mit dem Grundgesetz unvereinbar wäre. Denn die Berücksichtigung der Lebenszeit in Triage-Entscheidungen widerspricht nach Auffassung der HAI-Autoren weder dem Verfassungsprinzip der unantastbaren Würde des Einzelnen noch der damit einhergehenden Unverrechenbarkeit des menschlichen Lebens. Sie sei vielmehr aus Gerechtigkeitsgründen, nämlich auf Basis der verfassungsrechtlich geforderten Gleichachtung aller Bürgerinnen und Bürger, geboten.

Hierzu heißt es in der HAI-Stellungnahme: "Alte Menschen sind privilegiert bzw. besser gestellt, insoweit ihr Leben reich an Jahren ist. Junge Menschen sind in dieser Hinsicht deutlich unterprivilegiert, sollten sie sterben. Lässt ein Triage-Verfahren die bereits verstrichene Lebenszeit unberücksichtigt und rettet einen hochbetagten Menschen anstelle eines jungen, verteilt es das vitalste aller Güter von den entsprechend Armen zu den Reichen sozusagen um. Es macht den an Lebensjahren Reichen noch reicher, während der an Lebensjahren Arme arm bleibt." Alle plausiblen Gerechtigkeitstheorien schlössen einen "Vorrang der Unterprivilegierten bzw. Schlechtergestellten” ein. Aus diesem Grund sei insbesondere auch den jüngeren Menschen mit Vorerkrankungen und Behinderungen ein zusätzlicher, starker Gerechtigkeitsvorrang einzuräumen. Auf diese Weise lasse sich am plausibelsten vermeiden, dass sie ungerecht benachteiligt werden.

Des Weiteren problematisieren die Autoren die Einschätzung des Ethikrates bezüglich der sogenannten "Ex-post-Triage". Im Rahmen der Ex-post-Triage werden Patienten nachträglich vom Beatmungsgerät getrennt, damit höher priorisierte Patienten überleben können. Der Ethikrat hatte in diesem Zusammenhang betont, dass das aktive Beenden einer laufenden Behandlung zum Zweck der Rettung eines Dritten nicht rechtens sei. Dennoch könnten Ärzte mit einer "entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung” rechnen, wenn sie ex post triagierten. 

Dem halten die Autoren der HAI-Stellungnahme entgegen, dass nicht einsichtig sei, warum die Ex-post-Triage entschuldigt werden sollte, wenn man sie für rechtswidrig hält. Die Ärzteschaft habe daher allen Grund, angesichts der Stellungnahme des Ethikrats beunruhigt zu sein: "Würde die Ex-Post-Triage als rechtswidrig eingestuft, hätte dies nicht nur zur Folge, dass – auch gemäß dem Ethikrat sehr nachvollziehbare – ethische Gewissensentscheidungen unzulässig kriminalisiert würden. Darüber hinaus wären Ärzte der inakzeptablen Situation ausgesetzt, rechtmäßige Notwehrhandlungen gegen ihre eigene Person in Kauf nehmen zu müssen”, sollten sie ex post triagieren. Eine solche Rechtspraxis wäre strukturell höchst irrational und könne ethisch nicht vertreten werden.
 

Ärzte nicht zusätzlich mit ungeklärten Fragen belasten

Grundsätzlich sei es geboten, die Ärzteschaft nicht mit offenen Fragen der Ethik und der Rechtswissenschaft zu belasten oder ihnen gar mit einer strafrechtlichen Verfolgung zu drohen. Das Recht sei daher aufgerufen, ärztlichen Gewissensentscheidungen, die im Katastrophenfall unter Umständen gefällt werden müssen, bis auf Weiteres Raum zu lassen. 

Weder in der Ethik noch in der Rechtswissenschaft, der Gesundheitsökonomie oder der Medizin selbst bestehe bisher Einigkeit in der Frage, ob und wie eine Verteilung von Überlebenschancen bei Ressourcenknappheit geregelt werden sollte. Die resultierende Ungewissheit sei anzuerkennen und transparent zu kommunizieren. "Sie gebietet – im liberalen Rechtsstaat – nicht zuletzt auch eine Zurückhaltung bezüglich strafrechtlicher Verfolgung, die als schärfstes Schwert des Staates nur unter restriktiven normativen Voraussetzungen gewählt werden darf”, so die Ethiker des Hans-Albert-Instituts.

 
Notwendigkeit einer offenen Debatte

In der Stellungnahme weisen die Autoren darauf hin, dass auch innerhalb des Hans-Albert-Instituts unterschiedliche Positionen vertreten und diskutiert werden. Weder liegt ein Konsens hinsichtlich der Auswahlkriterien noch der Zulässigkeit der Ex-Post-Triage vor. Die bestehende Meinungspluralität versteht das Institut als Anlass, sich auch künftig intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Denn eine offene Debatte, in der unterschiedliche Standpunkte Gehör finden, könne auch zur Vertrauensbildung und Stärkung des liberalen Rechtsstaates beitragen.

Existenzielle Entscheidungen müssen schließlich nicht nur auf Intensivstationen getroffen werden. Die damit verbundenen Fragen drängen sich in ähnlicher Form beispielsweise auch bei der Zuteilung von Spenderorganen, der Verteilung knapper Gelder im Bereich der der Entwicklungszusammenarbeit, der Vergabe von Klimapflichten bzw. von Emissionsrechten und der Zuteilung knapper Impfstoffe auf.

Entsprechende Überlegungen zur Impf-Triage hatten die HAI-Beiräte Adriano Mannino und Nikil Mukerji bereits Anfang März in der FAZ ausgeführt. Sie plädierten dafür, die Impfreihenfolge aus Gerechtigkeitsgründen sofort zu flexibilisieren. 70-Jährige beispielsweise hätten nach aktueller Studienlage gegenüber 60-Jährigen eine ungefähr doppelte Sterbewahrscheinlichkeit, wenn sie sich mit dem Coronavirus infizieren. Doch daraus folge nicht, dass sie auch ein doppeltes Risiko tragen, denn Risiken seien immer durch mindestens zwei Faktoren bestimmt: die Schadenswahrscheinlichkeit und das Schadensausmaß. Im Todesfall verlieren 60-Jährige im Schnitt ungefähr doppelt so viele Lebensjahre wie 70-Jährige, und sie gehören zu den vergleichsweise Schlechtergestellten. Aus diesen Gründen sei es ungerecht, 60-Jährige gegenüber 70-Jährigen in der Impf-Triage zu benachteiligen.