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10 Jahre Kölner Urteil

Am 7. Mai findet in Köln der „Internationale Tag für genitale Selbstbestimmung“ statt (mit Livestream über YouTube)

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2017: Demo "5 Jahre Kölner Urteil" (Foto: Florian Chefai)

Vor 10 Jahren löste ein bahnbrechendes Urteil des Landgerichts Köln eine breite gesellschaftliche Debatte zur Frage der sogenannten Knabenbeschneidung aus. Die Giordano-Bruno-Stiftung startete daraufhin die Kinderrechtskampagne "Mein Körper gehört mir! Zwangsbeschneidung ist Unrecht – auch bei Jungen" und zählt auch 2022 zu den Unterstützern des "Wordwide Day of Genital Autonomy" (WWDOGA).

Am 7. Mai 2022 jährt sich die Verkündung des "Kölner Urteils" zum zehnten Mal. Dieses hatte 2012 auch Jungen das Recht auf genitale Selbstbestimmung zugesprochen, indem es eine medizinisch nicht indizierte Vorhautentfernung ("Beschneidung") eines Jungen als eine strafbare Körperverletzung bewertete. Inzwischen ist der 7. Mai längst weltweit zu einem Symbol für die Selbstbestimmungsrechte des Kindes unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Tradition geworden. Zum 10. Jahrestag beschäftigt sich der WWDOGA mit den Hintergründen und den Folgen des Kölner Urteils: Welche Spuren hat das Urteil hinterlassen? Welche Entwicklungen finden weltweit auf dem Gebiet der genitalen Selbstbestimmung statt?

Die Veranstaltungen in Köln beginnen um 10:30 Uhr mit einem Fototermin vor dem Landgericht Köln (Luxemburger Straße 101, 50939 Köln), anschließend folgt eine Demo durch die Innenstadt. Die zentrale Kundgebung ist für 12.00 Uhr auf dem Alten Markt (neben dem Alten Rathaus) geplant. Der Live-Stream auf YouTube beginnt bereits um 10.00 Uhr. Dort sollen nicht nur die Reden auf der Zentralen Kundgebung wiedergegeben werden, sondern auch vorproduzierte Sendungen.

 
Online-Gespräch zu den Hintergründen des Kölner Urteils

So wird am 7. Mai um 19.00 Uhr unter anderem auch ein Online-Gespräch zwischen dem Strafrechtler Holm Putzke, dem Juristen und Rechtsphilosophen Reinhard Merkel, dem Arzt und Psychotherapeut Matthias Franz und dem Philosophen und gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon ausgestrahlt. Alle vier waren vor 10 Jahren maßgeblich an der Debatte zur Genitalbeschneidung beteiligt: Putzke hatte bereits 2008 einen Fachaufsatz zur strafrechtlichen Bewertung der Knabenbeschneidung verfasst, der vier Jahre später Niederschlag im "Kölner Urteil" fand; Merkel vertrat 2012 im Deutschen Ethikrat im Alleingang die rationale Position, dass sich aus der Religionsfreiheit der Eltern keineswegs ein Recht zur Genitalverstümmelung der Kindern ableiten lässt; Franz initiierte aus ärztlicher Sicht einen vielbeachteten, offenen Brief an die Politik, der sich für die genitale Selbstbestimmung von Jungen und Mädchen aussprach; und Schmidt-Salomon leitete die Kinderrechtskampagne "Mein Körper gehört mir!",  die herausarbeitete, dass es sich bei der Knabenbeschneidung keineswegs um eine Bagatelle handelt, sondern um einen "risikoreichen, schmerzvollen, mitunter traumatisierenden Eingriff, der mit der irreversiblen Amputation eines hochsensiblen, funktional nützlichen Körperteils verbunden ist".

 
Missachtung der individuellen Selbstbestimmungsrechte

Am 7. Mai 2017, zum 5. Jahrestag des "Kölner Urteils", hatte Schmidt-Salomon in seiner Rede auf der zentralen Kundgebung in Köln die deutschen Politikerinnen und Politiker scharf angegriffen und dabei die Parallelen zwischen der Zwangsbeschneidung von Mädchen und Jungen verdeutlicht: "Wer Eltern das Recht einräumt, aufgrund von archaischen Religionsvorschriften die Genitalien ihrer Söhne zu verstümmeln, der kann keine guten rechtsstaatlichen Argumente, sondern nur noch sexistische Gründe (im Sinne von ‚Männer weinen nicht!‘) dafür angeben, warum er dieses ‚Recht‘ im Falle der Töchter konsequent verweigert. Zudem darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass es nur in solchen Gegenden zu weiblichen Genitalverstümmelungen kommt, in denen männliche Genitalverstümmelung gängige Praxis ist. Daher würde eine konsequente Ächtung der Knabenbeschneidung auch zu einem Rückgang der weiblichen Genitalbeschneidung führen, was jährlich Abertausenden von Mädchen und Jungen großes Leid ersparen und nicht wenigen von ihnen das Leben retten würde. (…) Niemals hätten die deutschen Politiker den Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes religiösen Interessen unterordnen dürfen. Denn damit haben sie nicht nur die Rechte der Kinder verraten, sondern auch bewiesen, dass ihnen sowohl der Mut als auch die Weitsicht fehlt, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen."

Die Lösung des Problems, die Schmidt-Salomon auf der Kundgebung 2017 formulierte, vertritt die Giordano-Bruno-Stiftung auch noch heute, fünf Jahre später: "Religiös begründete Beschneidungen sollten erst in einem Alter erfolgen, in dem die Betroffenen selbst entscheiden und die Folgen des Eingriffs abschätzen können. Dass dieser Vorschlag von religiösen Kräften so vehement abgelehnt wird, ist leicht zu verstehen. Schließlich müssen sie davon ausgehen, dass die allermeisten Jugendlichen sich der schmerzhaften Prozedur der Beschneidung gar nicht unterziehen würden, wenn man ihnen die freie Wahl ließe. Besser lässt sich gar nicht verdeutlichen, wie sehr die gegenwärtige Praxis die individuellen Selbstbestimmungsrechte missachtet."

Hinweis: Bereits am 5. Mai findet an der Universität Mainz eine Fachtagung zum 10. Jahrestag des "Kölner Beschneidungsurteils" statt. Initiatoren der Tagung sind die Strafrechtsprofessoren Prof. Dr. iur. Dr. med. Hauke Brettel und Prof. Dr. iur. Jörg Scheinfeld (Leiter des Instituts für Weltanschauungsrecht - ifw).