»§ 166 schützt Antisemiten – er schützt nicht vor Antisemitismus«
Warum die politischen Argumente gegen die Abschaffung des »Gotteslästerungsparagrafen« falsch sind
Die Mitzeichnungsfrist für die Bundestagspetition zur Streichung des § 166 StGB ist abgelaufen. Nun liegt es in den Händen der Politik, ob dieser Impuls der Zivilgesellschaft aufgegriffen wird oder nicht. Im hpd-Interview spricht der Initiator der Petition, Michael Schmidt-Salomon, über die Mythen, die der Abschaffung des Paragrafen im Weg stehen, sowie über sinnvolle und weniger sinnvolle Wege, den Gefahren des Antisemitismus entgegenzutreten.
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hpd: Mehr als 3200 Personen haben die aktuelle Petition zur Streichung des »Gotteslästerungsparagrafen« 166 StGB mitgezeichnet. 2015, als du schon einmal eine derartige Petition beim Bundestag eingereicht hast, waren es über 11.000 Unterzeichner. Hat dich das aktuelle Ergebnis enttäuscht?
Michael Schmidt-Salomon: Nein, das war zur erwarten. Vor 9 Jahren, kurz nach dem Anschlag auf »Charlie Hebdo«, war das Thema groß in den Medien und die Absurdität des Paragrafen für viele offensichtlich. Immerhin hätten die überlebenden Mitglieder der »Charlie Hebdo«-Redaktion nach deutschem Recht ja verurteilt werden müssen, da ihre Zeichnungen Islamisten dazu animierten, Terrorakte zu begehen. Heute ist die Erinnerung an die Solidaritätsbewegung »Je suis Charlie« leider verblasst und damit auch das Bewusstsein dafür, warum der alte Zensurparagraf 166 StGB abgeschafft werden müsste. Allerdings ist die Zahl der Mitzeichner für den Erfolg einer Petition nicht ausschlaggebend, entscheidend sind vielmehr die Verhältnisse im Bundestag bzw. im Petitionsausschuss. 2015 hätten wir selbst mit 200.000 Mitzeichnern unser Ziel nicht erreicht, da die Befürworter des § 166 StGB in der Mehrheit waren. Heute jedoch könnten SPD, FDP, GRÜNE und LINKE die Streichung des Paragrafen durchsetzen, ja: müssten es sogar, wenn sie ihre Parteiprogramme ernstnehmen würden.
Die Giordano-Bruno-Stiftung hat unlängst in einer Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass der heutige Bundesjustizminister Marco Buschmann in einem gemeinsamen Aufsatz mit Finanzminister Christian Lindner die Abschaffung des § 166 StGB gefordert hat. In diesem Artikel aus dem Jahr 2015 haben sich die beiden FDP-Politiker sogar explizit auf die Argumente bezogen, die du damals gegen den Paragrafen vorgebracht hast.
Dieser Verweis hat uns auch erstaunt, als wir den Beitrag in der »Deutschen Richterzeitung« entdeckt haben. Erfreulicherweise ließen Buschmann und Lindner 2015 in ihrem Aufsatz keinen Zweifel daran aufkommen, dass § 166 StGB gestrichen werden muss. Dabei zeigten sie sehr prägnant die »fatale Anreizwirkung« auf, die von dem Paragrafen ausgeht. Denn § 166 räumt religiösen Fanatikern die Möglichkeit ein, den Aktionsradius Andersdenkender schon allein dadurch einzuschränken, dass sie bloß androhen, auf Religionskritik mit gewaltsamen Aktionen zu reagieren.
Mit Blick auf das Attentat auf »Charlie Hebdo« zogen Buschmann und Lindner daraus eine rechtspolitische Konsequenz, die berücksichtigt werden sollte; »Wer die Freiheit der Meinung, der Kunst und der Presse einschränken will, dem sollten wir mit mehr und nicht mit weniger Freiheit antworten. Wem diese Botschaft wichtig ist, dem steht ein deutliches Symbol zur Verfügung: die Abschaffung des Blasphemie-Paragrafen 166 StGB.«
Warum legt Buschmann denn nun in seiner Funktion als Justizminister nicht einfach einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Paragrafen vor?
Das ist eine interessante Frage. Eigentlich sollte man ja erwarten, dass man das, was man als Oppositionspolitiker vernünftigerweise gefordert hat, auch umsetzt, wenn man Regierungsverantwortung übernommen hat. Aber das ist offenkundig nicht so. Als Buschmanns Ministerium im November 2023 ein Eckpunkte-Papier zur Modernisierung des Strafgesetzbuches vorlegte, fehlte erstaunlicherweise die Streichung von § 166 StGB, worauf der "Arbeitskreis sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen" (ASJ) vor einigen Tagen kritisch hingewiesen hat.
»§ 166 schützt Antisemiten«
Was hindert Buschmann daran, seine alte Forderung in die Tat umzusetzen?
Möglicherweise ist er besorgt, dass dies negative Reaktionen bei den Religionsgemeinschaften hervorrufen würde. Zudem herrschen im politischen Raum, wie wir erfahren haben, seltsame Mythen vor, die für eine Beibehaltung des Paragrafen sprechen sollen. Das wohl wirkmächtigste politische Argument pro § 166 StGB lautet, dass er angeblich ein Bollwerk gegen antisemitische Propaganda darstellt, aber das ist völlig verfehlt. Denn: § 166 schützt Antisemiten – er schützt nicht vor Antisemitismus! Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass der jahrhundertealte Judenhass vornehmlich aus religiösen Schriften gespeist wurde.
Es ist tragischerweise so, dass Judenhass für Abermillionen Menschen weltweit zu ihrem religiösen Glaubensbekenntnis dazugehört. Und hier liegt das Problem: § 166 StGB versucht zu verhindern, dass man diesen religiösen Irrsinn in der notwendigen Schärfe kritisiert. Schließlich könnten sich Islamisten durch diese Kritik ja so beleidigt fühlen, dass es zu einer Störung des öffentlichen Friedens kommt. Tatsächlich ist diese Gefahr auch nicht von der Hand zu weisen, da religiöse Fanatiker es nie gelernt haben, auf Kritik in angemessener Weise zu reagieren.
Das liegt nicht zuletzt an den in der islamischen Welt weitverbreiteten Blasphemie-Gesetzen, die jede Islamkritik im Keim ersticken. Am liebsten würden Islamisten diese Form der Kritik- und Kritikervernichtung auch im säkularen Europa etablieren. Das gelingt ihnen zwar nicht, aber mit § 166 StGB haben sie zumindest ein Einfallstor gefunden. So sind Islamisten in Hamburg dazu übergegangen, ihre Kritiker mithilfe des deutschen Blasphemie-Paragrafen anzuzeigen. Wer für die Beibehaltung von § 166 plädiert, sollte sich daher vor Augen führen, dass er sich damit an die Seite der iranischen Mullahs, der Muslimbrüder und der Hamas stellt.
Jüdische Intellektuelle als Opfer des § 166
Besteht nicht auch ein besonderes Problem darin, dass § 166 StGB zwar das religiöse Bekenntnis des Judentums vor scharfer Kritik schützt, nicht aber jüdische Menschen?
Das ist ein entscheidender Punkt, zumal ja viele »Juden« nicht gläubig im Sinne der jüdischen Religion sind. Viele von ihnen kommen aus Familien, die mitunter schon seit Generationen säkular sind, weshalb die Atheisten- und Agnostiker-Quote unter Jüdinnen und Juden besonders hoch ist. Dies erklärt, warum sich der Hass der Rechtsextremen im 20. Jahrhundert gerade auch gegen religionskritische Juden wie Marx, Freud und Einstein richtete. In der Zeit des Nationalsozialismus galt der Atheismus sogar als Ausdruck einer »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung«.
Freigeistigen jüdischen Intellektuellen bot der § 166 deshalb zu keiner Zeit Schutz, er stellte vielmehr eine zusätzliche Bedrohung dar. Schon im Kaiserreich wie auch in der Weimarer Republik richteten sich religiös-nationalistische 166er-Kampagnen vornehmlich gegen "jüdische Literaten, die ihr Gift gegen die erhabensten Gestalten der christlichen Religion verspritzen", wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt. Nicht ohne Grund waren es vor allem jüdische Intellektuelle wie Kurt Tucholsky, die sich vehement für die Abschaffung des Straftatbestands der Blasphemie engagierten. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung, dass § 166 StGB ein Bollwerk gegen Antisemitismus sein könne, grotesk. Wer eine solche Haltung vertritt, hat offenbar nur wenig Kenntnis von der Geschichte dieses Zensurparagrafen, der unverhältnismäßig oft gegen jüdische Intellektuelle eingesetzt wurde.
Allerdings hat § 166 mit der Großen Strafrechtsreform Ende der 1960er Jahre eine weltanschaulich neutrale Formulierung erhalten. Bedeutet das nicht, dass die Weltanschauungen säkularer Juden genauso geschützt werden wie die Bekenntnisse religiöser Juden?
Nein, denn trotz des veränderten Wortlauts wird § 166 in der Praxis nur zur Verteidigung religiöser Weltanschauungen angewendet. Wie wir u.a. auf der Website der Kampagne »Free Charlie!« dargelegt haben, gab es in der gesamten Geschichte des Paragrafen keine einzige Verurteilung aufgrund der Beleidigung einer säkularen Weltanschauung. Warum nicht? Weil religionsfreie Menschen den öffentlichen Frieden nicht stören, wenn man ihre Anschauungen kritisiert oder karikiert. § 166 StGB richtete sich daher stets gegen säkulare Religionskritik, insbesondere, wenn sie Mittel der Satire einsetzte, denn religiöse Fanatiker verstehen in der Regel überhaupt keinen Humor. Das ist vor allem deshalb bedauerlich, weil die Satire seit jeher eine wichtige aufklärerische Funktion in der Gesellschaft erfüllt. Und so lässt sich der Freiheitsgrad einer Gesellschaft noch immer daran bemessen, wie groß der Spielraum ihrer Satiriker ist. Interessant dabei: Unter Satirikern sind säkulare Juden überdurchschnittlich stark vertreten – Menschen wie der französische Comiczeichner Georges Wolinski, der bei dem Anschlag auf »Charlie Hebdo« am 7. Januar 2015 ums Leben kam. Wie gesagt: Nach deutschem Recht hätte Wolinski verurteilt werden müssen, wenn er den Anschlag überlebt hätte. § 166 aufrechtzuerhalten, würde bedeuten, diese Täter-Opfer-Umkehr als rechtmäßig anzuerkennen – ein fataler Akt der Solidaritätsverweigerung gegenüber den jüdischen wie nichtjüdischen Opfern der Pariser Anschläge.
Nicht jede Kritik an Juden ist antisemitisch
Dennoch könnte es nach einem Wegfall des Paragrafen dazu kommen, dass mehr Karikaturen erscheinen, welche die jüdische Religion satirisch auf die Schippe nehmen, oder?
Ja, aber das sollte eine moderne offene Gesellschaft durchaus verkraften können. Mehr noch: Mit Blick auf die schrecklichen Vorgänge im Gazastreifen und im Westjordanland sollte man es sogar begrüßen, wenn die religiöse Fiktion des "auserwählten Volkes", das vermeintlich über allen anderen Völkern, insbesondere den Palästinensern, steht, deutlicher kritisiert würde. Denn nicht jede Kritik am jüdischen Fundamentalismus, an der ultraorthodoxen Siedlerbewegung oder an der Politik Netanjahus ist unbegründet und von antisemitischen Vorurteilen geprägt. Auf diesem Gebiet müssten wir sehr viel stärker im Sinne der »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus« differenzieren.
Klar ist jedenfalls: Wer für die Beibehaltung des § 166 StGB plädiert, schützt nicht »die« Juden, sondern setzt sich für eine Strafrechtsnorm ein, die de facto säkulare Juden für weniger schützenswert hält als religiöse Juden. In gewisser Weise positioniert man sich damit gegen die demokratische, anti-fundamentalistische Protestbewegung in Israel und unterstützt stattdessen den religiös-nationalistischen Wahn der ultraorthodoxen Siedler sowie der Regierung Netanjahu.
Ich halte dies für einen schwerwiegenden Fehler, denn diese rechtspopulistischen, mitunter offen rechtsextrem auftretenden Kräfte in Israel haben im Hinblick auf die eskalierende Gewalt in Nahost ähnlich katastrophale Wirkungen wie die Hamas oder die Hisbollah. Das wird aktuell besonders deutlich an dem brutalen Vorgehen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, allerdings handelt es sich dabei keineswegs um ein neues Phänomen. Ich erinnere nur daran, dass Jitzchak Rabin, der israelische Ministerpräsident, der sich in den 1990er Jahren für die Aussöhnung mit den Palästinensern und die »Zwei-Staaten-Lösung« einsetzte, nicht von einem Muslim ermordet wurde, sondern von einem rechtsradikalen Anhänger der ultraorthodoxen Siedlerbewegung…
Unverständnis gegenüber den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats
Kommen wir zurück zur Situation in Deutschland: Du hast in der Begründung deiner Bundestagspetition ausgeführt, dass der Schutz vor strafwürdiger Beschimpfung sowie der Schutz des öffentlichen Friedens auch ohne § 166 StGB gesichert sind, nämlich durch die Straftatbestände der Beleidigung (§ 185 StGB), der üblen Nachrede (§ 186 StGB), der Verleumdung (§ 187 StGB) und der Volksverhetzung (§ 130 StGB).
Richtig. Volksverhetzung (§ 130 StGB) wäre auch die einschlägige Strafnorm, mit der man auf juristischem Gebiet gegen Antisemitismus vorgehen kann. § 166 StGB ist dazu, wie gesagt, völlig ungeeignet, da der Paragraf säkulare Juden überhaupt nicht schützt. Er macht sie unter Umständen sogar zur Zielscheibe staatlicher Angriffe, insbesondere dann, wenn sie auf dem Gebiet der Satire arbeiten.
Offensichtlich scheint dieser Verweis auf den Straftatbestand der Volksverhetzung vielen Leuten nicht zu genügen. Denn erstaunlich viele Diskussionsbeiträge, die man auf der Website des Petitionsausschusses lesen kann, fordern, dass prinzipiell alle Äußerungen unterbleiben sollten, die von religiöser Seite als beleidigend aufgefasst werden könnten. Was meinst du dazu?
Das würde nicht weniger als das Ende der Meinungsfreiheit und der offenen Gesellschaft bedeuten! Über die vielen freiheitsfeindlichen Diskussionsbeiträge auf der Website des Bundestags habe ich mich auch gewundert. Offenbar ist die Haltung, dass man alles verbieten sollte, was einem selbst nicht gefällt, erschreckend weit verbreitet. Dahinter verbirgt sich ein grundlegendes Unverständnis gegenüber den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates. Denn das Strafrecht ist das »schärfste Schwert des Rechtsstaats«, das nur im Notfall eingesetzt werden darf, falls bedrohte Rechtsgüter auf andere Weise nicht geschützt werden können.
Ein Recht auf das Ausbleiben von Kritik an der eigenen Weltanschauung gibt es aber nicht. Im Gegenteil: In pluralen Gesellschaften besteht die zivilisatorische Grundanforderung an die Bürgerinnen und Bürger darin, auch empfindlich abweichende Meinungen ertragen zu können. Diejenigen, die diese Fähigkeit zur Toleranz nicht erworben haben, sollten für dieses Defizit nicht noch belohnt werden, etwa durch besondere Rücksichtnahme auf ihre religiösen Borniertheiten, die man auf diese Weise bloß zementiert. Insofern wäre die Abschaffung des § 166 StGB in der Tat ein »unmissverständliches Signal für die Freiheit« – und zwar nicht nur an die Adresse religiöser Fundamentalisten, sondern auch an die Adresse jener »besorgten Bürgerinnen und Bürger«, die sich aus »Furcht vor der Freiheit« (Erich Fromm) einen umfassenden Zensur- und Obrigkeitsstaat zurückwünschen.
Die Streichung des Paragrafen könnte daher eine gute Gelegenheit dafür sein, um in der Bevölkerung ein größeres Bewusstsein dafür zu wecken, was den demokratischen Rechtsstaat in seinen Grundfesten auszeichnet und wodurch er sich nicht nur von seinen vordemokratischen Vorgängern, etwa dem deutschen Kaiserreich, unterscheidet, sondern auch von den religiös-nationalistischen Regimen der Gegenwart. Und das scheint mir gegenwärtig besonders wichtig zu sein, denn diese Regime werden das »säkulare Europa« in den kommenden Jahren vermutlich noch stärker unter Druck setzen. Schon allein deshalb sollten wir endlich den Mut aufbringen, die Werte der Aufklärung mit etwas mehr Rückgrat zu verteidigen. Der Abschied von § 166 StGB wäre dafür ein längst überfälliger Schritt.
Vielen Dank für das Gespräch!