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#Chatkontrolle: Aktion gegen die Aufhebung der digitalen Privatsphäre

Warum die "Europäische Task-Force gegen Kindesmissbrauch" Briefe an EU-Parlamentarier öffnete

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Die EU-Parlamentarier erhielten ungewöhnliche Post. Foto: Varvara Borodkina / gbs

Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf vertrauliche Kommunikation – so steht es in der europäischen Grundrechtecharta. Doch die Mitglieder des Europaparlaments haben dieser Tage verdächtige Post bekommen: Die Briefe sind aufgerissen, von einer "Europäischen Task-Force gegen Kindesmissbrauch" kontrolliert und mit einem Warnhinweis versiegelt worden. Wer nachforscht, entdeckt, dass es sich dabei um eine Aktion der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) handelt, die auf diese Weise gegen die geplante Durchsuchung privater Chats und Emails protestiert.

Die Erfahrungen aus dem NSA-Abhörskandal zeigten, dass Politiker oft erst reagieren, wenn sie selbst betroffen sind. Und wer möchte schon gern mit Kinderpornografie in Verbindung gebracht werden? Was die EU-Parlamentarier im Rahmen der gbs-Briefaktion erlebt haben, könnte in etwas anderer Form bald allen Menschen in der EU widerfahren, erklärt Peder Iblher, Referent für digitale Grundrechte der Giordano-Bruno-Stiftung: "Der aktuelle Gesetzentwurf der EU-Kommission, die sogenannte ‚ePrivacy Derogation‘, die wohl schon am 6. Juli dem Europaparlament zur Entscheidung vorgelegt wird, sieht vor, dass sexuell zweideutige Inhalte automatisch mit der Polizei oder einer NGO geteilt und in die Nähe von Kindesmissbrauch gerückt werden. Das Gesetz verstößt zwar eindeutig gegen die europäischen Grundrechte, doch gegen die Begründung, man bekämpfe den Kindesmissbrauch, trauen sich kaum Parlamentarier zu argumentieren."

Dabei schadet das Gesetz sehr viel mehr, als es nützt, führt Iblher aus: "Erfahrungen mit derartigen Durchsuchungsmethoden zeigen, dass die Fehlerquote extrem hoch ist, es kaum je zu Anzeigen kommt und gewiefte Täter längst andere Kanäle nutzen. Ein Klima der Verunsicherung und Verdächtigungen, eine Kriminalisierung von Jugendlichen und die Gefahr von Leaks, Hacks und Missbrauch wären ein hoher Preis für wenig Effekt. Die meisten Taten bleiben ohnehin offline und wären mit Prävention und einer gut ausgestatteten Polizeiarbeit weit besser zu verhindern."

 
Ein erster Schritt zur vollständigen Massenüberwachung?

Die Durchsuchung aller Chatnachrichten soll Anbietern zunächst freistehen: Wer künftig bestimmte Anwendungen nutzt, müsste sich also damit einverstanden erklären. Doch die Schaffung einer verpflichtenden Überwachungs-Infrastruktur sei in einem zweiten Schritt fest geplant: "Das würde de facto das Ende des elektronischen Briefgeheimnisses in Europa bedeuten!", sagt Iblher. "In einem weiteren Schritt ist sogar die Umgehung der Verschlüsselung im Gespräch. Die bittere Konsequenz liegt auf der Hand: Wenn Privatsphäre kriminell ist, haben nur Kriminelle Privatsphäre. Denn sie finden Wege, die Kontrollen zu umgehen."

Die von Iblher initiierte Briefaktion soll den EU-Parlamentariern verdeutlichen, was es bedeutet, "wenn die eigene Korrespondenz überprüft wird und jede und jeder plötzlich im Fadenkreuz von Ermittlungen stehen könnte": "Schon ein intimes Selfie von Jugendlichen würde den Weg zur Polizei finden und dort begutachtet, analysiert und vielleicht aufbewahrt werden. Was ist noch privat, wenn der Staat überall herumschnüffeln darf? Wer sagt uns denn, dass die Durchsuchung nicht im Handumdrehen auch politischen Interessen unterworfen wird? Und wer weiß, ob alle Mitarbeitenden der beteiligten NGOs und der Polizei vertrauenswürdig sind?"

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Galerie: Bilder von der Aktion sowie der Reaktion von Patrick Breyer (MdEP)


72 Prozent der Europäer gegen Massenüberwachung

Der von Peder Iblher und gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon unterzeichnete Brief an die EU-Parlamentarier listet die maßgeblichen Argumente auf, die gegen die anlasslose Massenüberwachung ins Feld zu führen sind. Dabei berufen sich die Autoren auch auf den ausdrücklichen Willen der europäischen Bevölkerung. Laut einer repräsentativen Umfrage sprechen sich die Bürgerinnen und Bürger in Europa nämlich mit einer klaren Mehrheit von 72 Prozent gegen eine anlasslose Durchsuchung ihrer elektronischen Kommunikation aus.

In ihrem Brief, den man auf OpenPetition.org mitunterzeichnen kann, weisen Iblher und Schmidt-Salomon nachdrücklich darauf hin, dass sich die Giordano-Bruno-Stiftung seit vielen Jahren für Kinderrechte einsetzt und mit vielen Betroffenen des sexuellen Missbrauchs eng zusammenarbeitet. Umso wichtiger sei es der Stiftung deshalb, dass nun der gute Zweck, nämlich die Verhinderung von sexueller Gewalt gegen Kinder, nicht missbraucht werde, um ein schlechtes Mittel, nämlich die anlasslose Massenüberwachung, zu legitimieren. Ihr abschließender Appell an die EU-Parlamentarier: "Verbrechen gegen Kinder sind furchtbar und verlangen entschiedenes Handeln! Doch eine anlasslose Überwachung unserer Kommunikation ist völlig ungeeignet und schafft ein Klima des Misstrauens in Europa. Wir bitten Sie daher nachdrücklich, sich bei der Abstimmung gegen den Gesetzentwurf auszusprechen!"

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