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Diskutieren statt Diffamieren

Giordano-Bruno-Stiftung lädt Behindertenaktivisten zu gemeinsamer Veranstaltung ein

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Foto: Christian Voecks

Nachdem die Verleihung des Ethik-Preises der Giordano-Bruno-Stiftung in den Räumen der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt stattfinden konnte, hat der Stiftungsvorstand die Rücktrittsforderung gegenüber dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung zurückgezogen. Statt rechtliche Schritte gegen den CDU-Politiker Hubert Hüppe einzuleiten, schlägt die gbs eine gemeinsame Diskussionsveranstaltung mit Hüppe und anderen Behindertenaktivisten vor, die dazu beitragen soll, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Dies geht aus einem Schreiben hervor, das die Stiftung am heutigen Donnerstag an die Behindertenaktivistin Ursula Lehmann faxte. Lehmann hatte in einem Brief, der unter anderem auf kobinet-nachrichten.de veröffentlicht wurde, gegen die Verleihung des Ethikpreises an Peter Singer protestiert. In dem ausführlichen Antwortschreiben der gbs ging der Stiftungsvorstand noch einmal auf Quellen möglicher Missverständnisse ein. So sei es ein anerkanntes Verfahren der Analytischen Philosophie, Sachverhalte zunächst einmal infrage zu stellen, um sie philosophisch begründen zu können. Dies gelte für die Frage nach der „Wahrheit“ ebenso wie für die Frage nach den „Lebensrechten“. Das bloße Infragestellen von Sachverhalten sei daher nicht kritikwürdig, problematisch könnten allenfalls die Schlüsse sein, zu denen ein Autor letztlich gelangt. Singer jedenfalls habe niemals "gegen Behinderte gehetzt" – auch wenn manche Passagen in seinen Texten so erscheinen mögen, wenn man sie aus dem argumentativen Zusammenhang herauslöse.

„Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden!“

Dennoch wies der Stiftungsvorstand darauf hin, dass die gbs die von Singer vorgenommene Verklammerung der Fragen des Lebensrechts und der humanen Sterbehilfe schon in ihrer 2005 erschienenen Grundlagenschrift „Manifest des evolutionären Humanismus“ kritisiert hatte. An dieser Haltung der Stiftung habe sich nichts geändert. Die Position der gbs könne man auf folgenden Nenner bringen: „Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden!“ Selbstverständlich sollte jeder Mensch (ob behindert oder nicht) ab der Geburt ein unverbrüchliches Recht zu leben besitzen, aber er sollte nicht dazu gezwungen werden, weiterleben zu müssen, wenn dies nicht in seinem eigenen Interesse ist.

Trotz der Bedenken bezüglich einiger Standpunkte und Formulierungen ihres Preisträgers betrachtet die Giordano-Bruno-Stiftung Peter Singer „als einen der bedeutendsten Philosophen unserer Zeit, der zu Recht an einer der renommiertesten Universitäten der Welt (Princeton) lehrt“. Singer habe – wie kaum ein anderer Philosoph – die ethische Debatte in vielen Ländern vorangebracht. Dies betreffe nicht nur die Anerkennung der Tierrechte, für die er in Frankfurt ausgezeichnet wurde, sondern auch den Kampf gegen die absolute Armut, die Selbststimmungsrechte von Frauen oder sterbenden Menschen. Mit dem „Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen“, das im Zentrum seiner Ethik stehe, habe Singer stringent gegen Diskriminierungen aller Art argumentiert, „gegen Rassismus, Nationalismus, Fundamentalismus, Sexismus, Speziesismus – und natürlich auch gegen die Diskriminierung von Behinderten.“ Im Mittelpunkt des Singerschen Ansatzes stünden die „Interessen der Individuen“ – keineswegs der „Nutzen der Gesellschaft“, wie Hubert Hüppe „in völliger Verkennung des Singerschen Denkansatzes“ behauptet habe.

Ist das Recht auf Schwangerschaftsabbruch behindertenfeindlich?

Zum Behindertenbeauftragten der Bundesregierung erklärte der Stiftungsvorstand, dass Hubert Hüppe selbstverständlich das Recht habe, Singers Positionen und auch die Preisvergabe der gbs zu kritisieren. Allerdings habe er als Beauftragter der Bundesregierung, der zu besonderer Sorgfalt in der Argumentation verpflichtet sei, nicht das Recht gehabt, „die Positionen Peter Singers auf diffamierende Weise zu entstellen und eine Verhinderung der Preisverleihung in den Räumen der Deutschen Nationalbibliothek zu fordern.“

Die Stiftungsverantwortlichen gaben an, nachvollziehen zu können, dass Hüppe, der ein Grußwort zum „Marsch für das Leben“ radikaler Abtreibungsgegner beisteuerte, nicht mit Singers Eintreten für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einverstanden sei. Aber Hüppe hätte, so die gbs, in seiner Stellungnahme diesen Punkt herausstellen müssen, statt künstlich einen Dissens zu konstruieren, der in Wirklichkeit gar nicht existiert: „Niemand von uns bestreitet doch, dass behinderte Menschen jede Unterstützung verdienen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können! In dieser Hinsicht ziehen wir allesamt am gleichen Strang! Wir sind allerdings anderer Meinung als Hubert Hüppe, was etwa das Recht auf Schwangerschaftsabbruch betrifft. Und auch viele behinderte Menschen widersprechen Hüppes Auffassungen in diesem Punkt deutlich. Es ist daher falsch, eine Konfliktlinie konstruieren zu wollen zwischen Hubert Hüppe und den Behindertenaktivisten auf der einen Seite und der Giordano-Bruno-Stiftung auf der anderen Seite.“ Viele Behindertenaktivisten, so der gbs-Vorstand, würden in puncto Schwangerschaftsabbruch oder PID nicht die Positionen Hubert Hüppes, sondern die Positionen der Giordano-Bruno-Stiftung vertreten. Das erkläre auch, warum in den letzten Tagen „überdurchschnittlich viele behinderte Menschen und engagierte Sonderpädagogen“ in den Förderkreis der Stiftung eingetreten seien.

Aufruf zu einer fairen Debatte

Angesichts der massiven Angriffe Hüppes im Vorfeld des Frankfurter Festakts sei es angemessen gewesen, Hüppes Rücktritt vom Amt des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung zu fordern und rechtliche Schritte gegen ihn aufgrund falscher Tatsachenbehauptungen anzudrohen. Nachdem der Festakt aber am vorgesehenen Ort stattfinden konnte, habe sich der Vorstand dazu entschlossen, die Rücktrittsforderung zurückzuziehen. Statt rechtliche Schritte gegen Herrn Hüppe einzuleiten, schlägt die Stiftung am Ende ihres Briefs eine gemeinsame Veranstaltung von Giordano-Bruno-Stiftung und interessierten Behindertenverbänden vor, zu der der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung herzlich eingeladen sei. Bei dieser Veranstaltung sollte es nicht um Dinge gehen, „die für uns alle selbstverständlich sind, nämlich dass Behinderte ebenso wie Nichtbehinderte von Geburt an ein unverbrüchliches Lebensrecht besitzen (es gibt keine Menschen 2. Klasse!) oder dass diese Gesellschaft alles tun muss, um behinderte und kranke Menschen zu unterstützen. Konstruktiv debattieren sollten wir über Sachverhalte, die unter uns wirklich strittig sind – beispielsweise darüber, ob es tatsächlich ‚behindertenfeindlich‘ ist, für die Zulässigkeit der PID oder des Schwangerschaftsabbruchs einzutreten. Die Argumente, die wir bislang zur Stützung dieser Position vernommen haben, haben uns nicht überzeugt, aber wir lassen uns gerne eines Besseren belehren.“

Lesen Sie den ausführlicheren Brief der gbs im Originalwortlaut: