Ein Sterbehelfer, der das Leben liebte
Nachruf auf Uwe-Christian Arnold
Er hätte so gerne an der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB in der kommenden Woche mitgewirkt, doch seine Krebserkrankung war zu weit fortgeschritten: Am gestrigen Freitag starb "Deutschlands bekanntester Sterbehelfer" Uwe-Christian Arnold in seiner Wohnung in Berlin. Noch am Abend vor seinem Tod versendete er eine Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht, sein politisches Vermächtnis. Ein Nachruf von Michael Schmidt-Salomon.
Uwe-Christian Arnold, den alle nur "Christian" nannten, war ein außergewöhnlicher Mensch, ein furchtloser Streiter für die Selbstbestimmung am Lebensende, ein "notorischer Querulant", der sich von den konservativen Bestimmungen der Ärztekammern nicht maßregeln ließ, ein unverbesserlicher Witzbold, der auch vor deftigen Späßen nicht zurückschreckte, ein einfühlsamer Arzt, der den Menschen in ihren schwersten Stunden zur Seite stand, und nicht zuletzt auch ein Freund, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte. Hinter seiner harten Schale verbarg er ein weiches Herz. Die Schicksale seiner Patientinnen und Patienten nahmen ihn oft sehr viel mehr mit, als er es öffentlich zugegeben hätte. Und so heftig er auch über die Vertreter des "Sterbe- und Leidensverlängerungskartells" mit ihrem "Multimilliarden-Geschäft" herziehen konnte, für Notleidende hätte er sein letztes Hemd geopfert.
Ich lernte Christian vor 10 Jahren bei einem Treffen von "Dignitas" und "Dignitas Deutschland" am Sitz der Giordano-Bruno-Stiftung kennen. Zunächst wusste ich nicht so recht, was ich von diesem etwas ruppigen Mann mit der schnoddrigen "Berliner Schnauze" halten sollte, doch dann merkte ich schnell, dass er blitzgescheit war und sein Herz am rechten Fleck trug. Seinen ersten programmatischen Vortrag über das "Recht auf Letzte Hilfe" hielt Christian im April 2013 am gbs-Stiftungssitz "Haus Weitblick" in Oberwesel. Damals vereinbarten wir, dass ich ihn beim Schreiben eines Buches unterstützen werde. Und so erzählte mir Christian wenige Monate später in langen, intensiven Sitzungen von seinem Leben und seiner Arbeit als Arzt und Sterbehelfer. Ich studierte die Fälle, die er betreut hatte, und die Anklagen, die gegen ihn erhoben worden waren. Und wir trafen uns mit einigen seiner Patientinnen und Patienten. Schließlich war ich auch bei einer seiner Freitodbegleitungen dabei, was mich sehr berührte.
Durch die gemeinsame Arbeit an dem Buch "Letzte Hilfe: Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben", das im Oktober 2014 – pünktlich zum Start der "Letzte Hilfe"-Kampagne "Mein Ende gehört mir" – im Rowohlt-Verlag erschien, kam mir Christian noch einmal näher. Ich war verblüfft darüber, mit welcher Begeisterung er von alten Spielfilmen erzählen konnte, über die er sich noch immer schlapplachte, oder von bewegenden Opernaufführungen und Jazzauftritten, die seine Augen noch Jahrzehnte später zum Leuchten brachten. Christian liebte gute Bücher, gute Musik, gutes Essen und guten Wein, doch bei aller Lebensfreude, die er an den Tag legte, konnte man stets auch die enorme Belastung spüren, unter der er stand. Denn Christian hatte - als einziger Arzt in Deutschland - mehrere Hundert schwerstleidende Menschen beim Freitod begleitet und dabei Berührendes und Tröstliches, aber auch unaussprechliche Not erlebt – und dies alles ohne jegliche fachliche Begleitung! Außer mit Helga, seiner Frau, und einigen wenigen Freundinnen und Freunden konnte er mit niemandem über seine Erfahrungen als Sterbehelfer sprechen. Irgendwann wurde mir klar, dass Christian dieses Problem auf seine ganz eigene Art löste – zum Beispiel, indem er uns immer wieder anrief, um die neuesten Witze zu erzählen, die er gerade irgendwo aufgeschnappt hatte. Sein hohes, langgezogenes "Haaaahaaaa", das auf jede Pointe folgte, werde ich nie vergessen. Es war Christians Form der Psychotherapie.
Vor allem in den Jahren 2014 und 2015 kämpfte Christian wie ein Löwe für das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende und für eine humane Sterbekultur. Er hat in dieser Zeit unzählige Interviews gegeben, Talkshows besucht, Podiumsdiskussionen bestritten und an Filmdokumentationen mitgewirkt. Hoffnung gab ihm, dass 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für eine Liberalisierung der Sterbehilfe votierten. Dass der Deutsche Bundestag entgegen diesem Bevölkerungsvotum Ende 2015 das "Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" verabschiedete, das jede Form der professionellen Freitodbegleitung verbietet und schwerstleidende Menschen katastrophal im Stich lässt, hat ihn schwer getroffen.
Mit großer Ungeduld wartete Christian deshalb auf die Eröffnung des Verfahrens zu den Verfassungsbeschwerden gegen das "Sterbehilfeverhinderungsgesetz" §217 StGB. Zur mündlichen Verhandlung am kommenden Dienstag und Mittwoch sollte er eine Stellungnahme vor dem Bundesverfassungsgericht vortragen. Doch die Krebserkrankung, unter der er schon lange litt, setzte ihm mehr und mehr zu. Er kämpfte dagegen an, aber in den letzten zwei Wochen zeichnete sich allmählich ab, dass er kaum mehr in der Lage sein würde, die Fahrt nach Karlsruhe anzutreten. Deshalb schlug ich ihm vor, die Stellungnahme schriftlich zu formulieren und durch seinen Rechtsanwalt in der Verhandlung vorlesen zu lassen. Über seinen Text für das Bundesverfassungsgericht haben wir noch am Donnerstagabend in unserem allerletzten Telefonat gesprochen. Dabei sagte mir Christian, dass die Schmerzen inzwischen trotz hoher Morphiumdosen so unerträglich geworden seien, dass es keinen Sinn mehr mache, den Tod länger hinauszuzögern. Ich wusste, was das bedeutet. Es war eines der traurigsten Gespräche, die ich je geführt habe.
Christian war für uns, den Vorstand und die Geschäftsführung der Giordano-Bruno-Stiftung, nicht nur ein wichtiger Mitstreiter, sondern ein Teil der Familie. Am Freitagmorgen rief er, wie er es versprochen hatte, noch einmal bei Herbert Steffen, dem Gründer der Giordano-Bruno-Stiftung, an, um sich zu verabschieden. Nach einem letzten "Servus" drehte Christian die Infusion auf. Wenig später schlief er friedlich ein. Auf die Frage, ob ich noch irgendetwas für ihn tun könne, hat er mir am Donnerstag geantwortet: "Ich brauche keine Trauerfeier und kein Denkmal, aber setzt bitte fort, was ich begonnen habe!" Das werden wir tun. Versprochen.
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Auszug aus der Stellungnahme von Uwe-Christian Arnold für das Bundesverfassungsgericht (geschrieben am 11.4.2019, ein Tag vor Christians Tod):
(…) Ich habe Hunderten von Menschen beim Sterben geholfen, so dass ich mit dem gesamten Spektrum an Leid konfrontiert wurde, das mit schwerwiegenden Erkrankungen unterschiedlichster Art einhergeht. Leider werde ich dieses Wissen wegen meiner eigenen schweren Erkrankung nicht mehr teilen können. Doch mein Buch "Letzte Hilfe – Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben" gibt einen guten Eindruck von diesen unterschiedlichen persönlichen Schicksalen und auch von der Notwendigkeit einer humanen Sterbehilfe. Es ist, wenn Sie so wollen, mein politisches Testament.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand, der dieses Buch mit Herz und Verstand gelesen hat, weiterhin für eine Aufrechterhaltung von § 217 StGB eintreten kann. Deshalb bitte ich Sie, verehrte Richterinnen und Richter, beschäftigen Sie sich mit den individuellen Schicksalen, die in "Letzte Hilfe" geschildert werden – und treffen Sie erst danach Ihre Entscheidung! Bitte verschließen Sie nicht die Augen vor der Realität, indem Sie sich vom "Mythos des natürlichen Todes" blenden lassen. Wir alle werden irgendwann sterben müssen – und dies sollte mit Hilfe eines erfahrenen Arztes möglichst schmerzfrei und selbstbestimmt geschehen, nicht qualvoll und fremdbestimmt! Versagen Sie den Menschen nicht ihr "letztes Menschenrecht" auf einen würdevollen Tod!
Uwe-Christian Arnold
(1944 -2019)