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§ 219a StGB ist Geschichte!

Der erste Schritt zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ist getan

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Kristina Hänel (2. v. l.) nach dem „erfolgreich verlorenen Prozess“ 2018 in Gießen, zusammen mit den ebenfalls betroffenen Frauenärztinnen Nora Szász (l.) und Eva Waldschütz (r.)

Der Deutsche Bundestag hat heute den umstrittenen Paragrafen 219a aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Damit haben die Gießener Ärztin Kristina Hänel und ihre Unterstützer*innen einen wichtigen Erfolg errungen. Doch der Kampf um die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs geht weiter.

"Sie müssen dieses Urteil tragen wie einen Ehrentitel im Kampf um ein besseres Gesetz." – Die außergewöhnlichen Worte des Richters, der sie gerade zur Zahlung einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt hatte, bestärkten Kristina Hänel in ihrem Kampf gegen den umstrittenen § 219a StGB, der ausgerechnet Fachleuten verbot, sachgerechte Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zu verbreiten. Mit Unterstützung der Giordano-Bruno-Stiftung und des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) ging die Gießener Ärztin den Weg durch die Instanzen, bis ihr Fall vor dem Bundesverfassungsgericht landete. Parallel zu dem Verfahren stieg der gesellschaftliche Druck so sehr, dass sich die neu gewählte Bundesregierung schnell darauf einigen konnte, das Verbot der sogenannten "Werbung für den Schwangerschaftsabbruch" aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.

"Mit der heutigen Entscheidung im Deutschen Bundestag hat Kristina Hänel erreicht, was sie erreichen wollte: § 219a StGB ist Geschichte!", sagt gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon. "Wir gratulieren Kristina und allen, die sich für die Abschaffung dieses Zensurparagrafen engagiert haben! Dies ist ein bemerkenswerter Erfolg, der zeigt, dass die Ampelkoalition das Motto ihres Koalitionsvertrages ‚Mehr Fortschritt wagen!‘ umsetzen möchte. Nun sind wir gespannt, ob sie auch den Mut aufbringen wird, den nächsten Schritt zu gehen und den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches zu regeln."

 
Auf dem Weg zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs?

Schon 2018, als die Zusammenarbeit mit Kristina Hänel begann, hatte die Giordano-Bruno-Stiftung in einer Presseerklärung darauf aufmerksam gemacht, dass die "Streichung von §219a StGB nur der erste Schritt einer umfassenden Rechtsreform" sein kann: "Die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch sind in ihrer Gesamtheit weder rational noch evidenzbasiert noch weltanschaulich neutral. Es ist an der Zeit, sie grundlegend zu revidieren."  Vor vier Jahren klang diese Forderung noch utopisch, doch mit der Ampelkoalition haben sich die Verhältnisse verändert. Tatsächlich haben sich SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, mögliche "Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches" zu prüfen.

Die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungsparteien sind gegenüber Reformen prinzipiell aufgeschlossen, allerdings scheuen sich insbesondere Sozialdemokraten und Liberale, das Thema politisch aufzugreifen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sie befürchten, in Karlsruhe ähnlich aufzulaufen wie ihre Vorgängerinnen und Vorgänger in den 1970er und 1990er Jahren, als das Bundesverfassungsgericht die im Bundestag beschlossene "Fristenlösung" wieder einkassierte. Doch sind diese Befürchtungen realistisch? gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon kommt zu einer anderen Einschätzung: "Nicht nur die gesellschaftlichen Werthaltungen haben sich seit den 1990er Jahren gewandelt, auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich seither weiterentwickelt – wie etwa das wegweisende Urteil zur Suizidhilfe aus dem Jahr 2020 zeigt. Darüber hinaus finden die Kirchen, die in den 1970ern und 1990ern noch großen Druck auf Karlsruhe ausüben konnten, kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht in Sachen Schwangerschaftsabbruch heute deutlich anders entscheiden würde als vor 30 Jahren."

 
Die historischen Urteile des BVerfG haben schwerwiegende Mängel

Wichtig für die strategische Kommunikation sei es nun, den Verantwortlichen in Berlin zu verdeutlichen, "dass die höchstrichterlichen ‚Unwerturteile‘ über den Schwangerschaftsabbruch von 1975 und 1993 ähnlich verfassungswidrig waren wie das Skandalurteil von 1957, mit dem das Bundesverfassungsgericht die Schwulenverfolgung in Deutschland legitimierte". "Wer sich heute noch positiv auf die Urteile von 1975 und 1993 beruft, hat sie entweder nicht gelesen oder nicht verstanden", meint Schmidt-Salomon. "Ich selbst war angesichts der intellektuellen Dürftigkeit und der schweren logischen Schnitzer der Argumentation regelrecht erschüttert, als ich die Urteile für die Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel analysierte."

Schmidt-Salomon demonstriert die schwerwiegenden Mängel der höchstrichterlichen Entscheidungen u.a. an der Kernaussage des Gerichts, demzufolge dem "ungeborenen Leben" von Anfang an "Menschenwürde" zukomme. Das BVerfG hatte in diesem Zusammenhang behauptet, es könne sich auf Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes stützen. Plausibel wäre diese Argumentation allerdings nur, wenn das Grundgesetz Embryonen als verfassungsrechtlich geschützte Personen ausweisen würde. Dies ist aber nicht der Fall. Denn Art. 1 Abs. 1 GG ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") wird in Art. 1 Abs. 2 über die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" (AEMR) begründet – und in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" heißt es unmissverständlich: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Aus gutem Grund steht dort nicht, alle Menschen seien frei und gleich an Würde und Rechten gezeugt oder empfangen.

Da sich das Bundesverfassungsgericht nicht auf die AEMR (und damit auch nicht auf das Grundgesetz) beziehen konnte, griff es auf eine andere Rechtsquelle zurück, um die unterstellte "Menschenwürde" des "ungeborenen Lebens" zu begründen, nämlich auf § 10 I 1 ALR. "ALR" klingt zwar ein wenig nach "AEMR", meint aber etwas völlig anderes, denn das Kürzel steht für das "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" aus dem Jahr 1794! Mit Berufung auf das ALR hätte das Bundesverfassungsgericht auch die Todesstrafe bei Majestätsbeleidigung legitimieren können oder die Verpflichtung der Eheleute zu regelmäßigem Geschlechtsverkehr! Letzteres ist interessant, weil die hohe Bedeutung, die der preußische Staat dem Vollzug der "ehelichen Pflichten" einräumte, verdeutlicht, was mit dem vom BVerfG zitierten § 10 I 1 ALR tatsächlich gemeint war: Im Widerspruch zu den Äußerungen des BVerfG ging es hier nämlich keineswegs um den individuellen Schutz des "einzelnen ungeborenen Lebens", sondern um eine Maßnahme zur Sicherung künftiger Untertanen, insbesondere zur Aufrechterhaltung des preußischen Heers.

 
Ein Abtreibungsrecht nach den Vorgaben des Vatikans

Sucht man nach der eigentlichen Quelle für die Begründung eines "Lebensrechts des Ungeborenen" für die gesamte Dauer der Schwangerschaft, so findet man sie weder im ALR noch im Grundgesetz noch in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", sondern landet bei einem entschiedenen Verächter der Menschenrechtsidee, der auch den Vorgaben des deutschen Grundgesetzes vehement widersprochen hätte, nämlich Papst Pius IX. Denn dieser hochumstrittene Pontifex, der fast alle Errungenschaften der Aufklärung als "Irrtümer der Moderne" verdammte, hatte 1869 zu Ehren der "Jungfrau Maria" die "Simultanbeseelung" (das sogenannte "Eingießen des Geistes im Moment der Befruchtung") zum unhinterfragbaren Glaubensdogma erhoben. Damit entfiel das Konzept der "Sukzessivbeseelung" (das von einer allmählichen "Beseelung" des Fötus im Verlauf seiner Entwicklung ausging), welche zuvor die Abtreibung innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate ermöglicht hatte.

Tatsächlich lagen die Karlsruher Richter*innen in ihren Urteilen ganz auf der Argumentationslinie von Pius IX.: Sie ersetzten lediglich den religiösen Begriff der "Seele" durch den säkularen Begriff der "Menschenwürde" und die durch "göttliche Schöpfung" angeblich vorgegebene "Heiligkeit des menschlichen Lebens" durch das Konzept eines kontinuierlichen "Lebensrechts des Ungeborenen". Mit dieser religiös parteiischen Argumentation verstießen die Verfassungsrichter*innen allerdings gegen das Diskriminierungsverbot von Art. 3 Abs. 3 GG. Denn es ist dem weltanschaulich neutralen Staat zwingend untersagt, bestimmte religiöse Vorstellungen zu bevorzugen oder zu benachteiligen.

Genau dies ist aber nach den Urteilssprüchen aus Karlsruhe permanent geschehen: Bis zum heutigen Tag privilegiert der Staat Menschen, die mit den Beseelungskonzepten der katholischen Amtskirche übereinstimmen, und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen. Dies betrifft nicht nur die vielen (konfessionsfreien) Bürgerinnen und Bürger, die religiöse Beseelungskonzepte per se ablehnen, sondern auch gläubige Juden, für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt, oder Muslime, für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft "beseelt" ist.

 
Ein eklatanter Verstoß gegen Grundrechte

Schmidt-Salomon hat in der Stellungnahme "Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat", die im März 2022 beim Bundesverfassungsgericht eingereicht wurde, aufgedeckt, dass das geltende Abtreibungs(un)recht gegen die ersten drei Artikel der Verfassung verstößt, nämlich gegen Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde), Art. 2 Abs. 1 und 2 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit und Verbot der Körperverletzung) und Art. 3 Abs. 1-3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit von Mann und Frau, Verbot von Diskriminierungen aufgrund von religiösen, weltanschaulichen oder politischen Anschauungen). Liest man die Beweisführung, wundert man sich darüber, dass eine derartige Missachtung von Grundrechten so lange Bestand haben konnte. Erklären lässt sich dies wohl nur vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Dominanz von Männern in den entscheidenden Gremien von Staat und Justiz – ein Punkt, den die Frauenbewegung seit 150 Jahren zu Recht in die Debatte einbringt.

Mit dem "Schutz des ungeborenen Lebens" lässt sich die gravierende Beschneidung der Selbstbestimmungsrechte ungewollt Schwangerer jedenfalls nicht legitimieren. Wie die Stellungnahme mit Verweis auf empirische Forschungsergebnisse verdeutlicht, könnte der Gesetzgeber allenfalls verfügen, "dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen". Derartige Gründe liegen aber nicht vor, "wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen und Blastozysten ‚ein eigenes Recht auf Leben‘ einräumt und dieses vermeintliche ‚Recht‘ gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt."

Leidtragende dieser "widersinnigen Rechtskonstruktion" sind ungewollt schwangere Frauen, die unter den gegebenen Verhältnissen immer größere Schwierigkeiten haben, Ärztinnen und Ärzte zu finden, die ihnen in ihrer Notlage helfen. Schmidt-Salomon hält dies für "religiöse Schikane, die unvereinbar ist mit den Prinzipien des modernen Rechtsstaates": "Ob sich eine Frau für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, liegt allein in ihrem eigenen Ermessen. Diese Entscheidung geht den weltanschaulich neutralen Staat nichts an, denn er hat sich in den Intimbereich der Frau nicht einzumischen. Dem Staat obliegt eine gänzlich andere Aufgabe: Er muss dafür sorgen, dass die Frau würdevoll behandelt wird – gleich, wie ihre Entscheidung ausfällt. Denn dies ist nach Art. 1 Abs. 1 GG die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Ob sich diese Einsicht irgendwann auch bei den politischen Verantwortlichen in Berlin durchsetzen wird? Man darf gespannt sein…