Die offene Gesellschaft steht auf dem Spiel
Trumps Wahlsieg stärkt die »Internationale der Nationalisten«
Es ist so gekommen, wie es viele befürchtet haben: Donald Trump zieht abermals ins »Weiße Haus« ein! Die Gründe für seinen Wahlerfolg sind dieselben wie bei seiner ersten Kandidatur 2016. Dies zeigen die nachfolgenden Auszüge aus dem Artikel »Die offene Gesellschaft steht auf dem Spiel«, den gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon Anfang 2017 für den Piper-Band »Wir haben die Wahl« geschrieben hat [aktuelle Ergänzungen sind durch eckige Klammern markiert].
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(...) Nach der Präsidentschaftswahl [2016] rätselten viele Journalisten über die Gründe von Trumps Erfolg sowie über die Agenda seiner Regierung. Dabei hätten sie bloß einen alten Vortrag seines [damaligen] Chefstrategen Steve Bannon lesen müssen. Bereits im Sommer 2014, also ein Jahr vor der Bekanntgabe von Trumps [erster] Kandidatur, skizzierte Bannon im Rahmen eines rechtskonservativen Kongresses im Vatikan (!) die zentralen Ziele, Strategien und Erfolgsaussichten der »globalen Tea Party-Bewegung«. Darunter verstand er eine in vielen westlichen Ländern beheimatete »Mitte-Rechts-Bewegung«, die sich zu den sozialkonservativen Werten des »jüdisch-christlichen Abendlandes«, zum Patriotismus sowie zur »freien Marktwirtschaft« bekennt.
Mit wachsendem Erfolg, so Bannon, setze sich diese Bewegung gegen die »Verursacher der Krise« zur Wehr – als da wären: erstens der Säkularismus, der durch eine weitreichende Schwächung der religiösen Werte und Institutionen dazu geführt habe, dass »der Westen« seine eigenen Prinzipien nicht mehr verteidigen könne, zweitens der Islam, der sich aufgrund des Fehlens religiöser Widerstandskräfte im Westen ungehindert ausbreiten könne, drittens internationale politische Institutionen wie die UN oder die EU, die darauf angelegt seien, »nationale Identitäten« zu zerstören und die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu beschneiden, sowie viertens eine verantwortungslose »Vetternwirtschaft«, die nur »den Eliten« (etwa an der Wallstreet oder in Washington) nutze und zur Verarmung großer Bevölkerungsteile führe.
Der letzte Punkt mag erstaunen. Bannons Angriffe auf den Finanzkapitalismus und seine Solidaritätsbekundungen gegenüber Arbeitern und Arbeitslosen klingen im ersten Moment nicht nach neurechter Propaganda. Tatsächlich aber sind dies wesentliche Elemente der neuen Tea Party-Ideologie, die erklären, warum Donald Trump gerade auch von ärmeren Bevölkerungsgruppen gewählt wurde. Aus Sicht der Tea Party-Bewegung – dies macht Bannons Text deutlich – ist der Kapitalismus regelrecht aus den Fugen geraten, seitdem er verstärkt auf globaler Ebene agiert und hierdurch zunehmend multinationale und multikulturelle Züge angenommen hat. Diesem als »unamerikanisch« empfundenen »Multikulti-Kapitalismus« setzen die Traditionalisten die Heilsbotschaft eines »neuen« (in Wahrheit allerdings antiquierten, an die vermeintlich »goldenen Zeiten« der Reagan-Ära erinnernden) Kapitalismus entgegen, der auf dezidiert christlichen und patriotischen Werten beruht. Aus diesem Grund steht die Wiederbelebung des christlich-konservativen Patriotismus ganz oben auf der Agenda der Trump-Administration. (...)
Gründe für Trumps Wahlerfolg
Weshalb hat diese unzeitgemäße Botschaft so großen Anklang bei den amerikanischen Wählern gefunden? Eine wichtige Rolle spielte hierbei die zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in den USA. Die Schere zwischen Arm und Reich ist dort nämlich deutlich weiter aufgegangen als in den meisten anderen Industrienationen. Tatsächlich könnte man im Hinblick auf die amerikanische Gesellschaft beinahe von »neofeudalen Verhältnissen« sprechen, da die Eliten kaum noch etwas tun müssen, um ihren Status zu erhalten, während die unteren Schichten kaum etwas tun können, um ihren Status zu verbessern.
Dies schürt natürlich den Hass auf »die Eliten«, den Trump im Wahlkampf ausschlachtete. Zudem macht es die Bürgerinnen und Bürger empfänglich für religiös-nationalistische Propaganda. Warum? Weil Menschen, die sich aufgrund fehlender persönlicher Aufstiegs-Chancen als Individuen nicht mehr wahrgenommen fühlen, dazu neigen, sich verstärkt als Gruppenmitglieder zu begreifen und sich in dieser Eigenschaft über die Mitglieder anderer (religiöser, nationaler oder ethnischer) Gruppen zu erheben. Schließlich lassen sich die Defizite eines angekränkelten Ich-Bewusstseins mithilfe eines übersteigerten Gruppen-Bewusstseins leicht kompensieren. (...)
Damit eine derart plumpe Abgrenzungsrhetorik funktionieren kann, bedarf es allerdings einer weiteren Voraussetzung: Rechtspopulisten wie Trump benötigen Wählerinnen und Wähler, die weitestgehend unempfindlich gegenüber logischen Widersprüchen sind. Auch in dieser Hinsicht spielten die Verhältnisse Trump in die Karten. Denn in den USA (wie vielen anderen Ländern der Welt) klafft nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinander, sondern auch die Schere zwischen Gebildeten und Ungebildeten, genauer: zwischen rational denkenden Menschen, die komplexe Zusammenhänge begreifen und auf Basis von Faktenwissen argumentieren, und jenen, die aufgrund mangelhafter Bildung oder ideologischer Indoktrination ein unterkomplexes Weltbild besitzen, empirische Belege ignorieren und auf jede noch so krude Wahnidee hereinfallen.
Es ist wichtig, diesen Aspekt in seiner Bedeutung zu erfassen. Denn viele Beobachter nehmen Donald Trump noch immer aus einem bestimmten Grund nicht ernst, nämlich weil es ihm mit spielerischer Leichtigkeit gelingt, das intellektuelle Niveau selbst eines George W. Bush zu unterschreiten. In Wahrheit aber war und ist dies das Geheimnis seines Erfolgs, denn als »präsidialer Stammtischbruder« spricht Donald Trump exakt das aus, was viele Durchschnittsbürger denken. In dieser Hinsicht ist Trump tatsächlich, was er zu sein vorgibt: ein Vertreter des »einfachen Mannes«. Wie dieser verachtet auch er die »Bildungselite«, deren Argumente er nicht versteht, die er aber dennoch als Gefahr wahrnimmt, weil sie sein einfach strukturiertes Weltbild zum Einsturz bringen könnten. Daher richtet sich Trumps viel beschworener »Kampf gegen die Elite« auch nicht primär gegen die »Elite des Geldes«, der er selbst angehört (...), sondern vielmehr gegen die »Elite des Geistes«: gegen Wissenschaftler, Philosophen, Künstler, Juristen, Journalisten, Intellektuelle – letztlich gegen jeden, der sich weigert, seinen Verstand soweit abzuschalten, dass er der Agenda der neuen US-Administration folgen kann.
Alternative Fakten
Sucht man nach dem hervorstechendsten Merkmal Trumpscher Regierungskunst, so ist es die Missachtung sämtlicher Standards der rationalen Argumentation. Die unzähligen Widersprüche in Trumps Aussagen, seine Vorliebe für »postfaktische Argumente«, sein Beharren auf »alternativen Fakten«, seine Verrisse von juristischen Beweisführungen und naturwissenschaftlichen Belegen – all dies sind keine zufälligen Erscheinungen, in ihnen offenbart sich vielmehr eine gefährliche Aushöhlung des Wahrheitsbegriffs: Offenkundig gibt es für Donald Trump keine intersubjektiv gültigen Wahrheiten, auf die man sich anhand rationaler Kriterien verständigen könnte, sondern bloß subjektive Meinungen, die entweder »great« sind, wenn sie seinen eigenen Interessen entsprechen, oder »Lügenpropaganda«, wenn sie diesen Interessen zuwiderlaufen.
In Trumps Welt wird die Güte eines Arguments nicht durch Logik und Empirie bestimmt, sondern durch denjenigen, der die Macht dazu hat, Argumente anzunehmen oder zu verwerfen. Und diese Macht liegt nun bei ihm, was das amerikanische Forschungs- und Bildungssystem schnell zu spüren bekam. Bekanntestes Beispiel: Der Übergang von Obama zu Trump war kaum vollzogen, da erhielten die amerikanischen Umweltschutzbehörden schon die Anweisung, sämtliche Daten von ihren Webseiten zu löschen, die Trumps Haltung zum Klimawandel widersprechen.
Weniger beachtet, aber nicht minder folgenreich ist die (...) forcierte Förderung privater Schulen zulasten des öffentlichen Schulsystems. Denn diese Schulen werden größtenteils von evangelikalen Christen betrieben, was aus Sicht der Regierung den Vorteil mit sich bringt, dass sie lästige wissenschaftliche Erkenntnisse (insbesondere die Evolutionstheorie) ignorieren und sich mit aller Kraft der Vermittlung christlich-patriotischer Werte widmen können. Dem politischen Rückhalt in der Bevölkerung wird dies mit Sicherheit nicht schaden, denn: »Auf hohlen Köpfen ist gut trommeln« (Karlheinz Deschner).
Letzteres hat der russische Präsident Wladimir Putin schon vor Jahren erkannt. Wie sein amerikanisches Pendent Trump setzt auch er auf die Stärkung religiös-nationalistischer Werte, weshalb er engen Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche hält, die immer mehr die Funktion einer Staatskirche übernimmt. Deshalb ließ Putin Tausende neuer orthodoxer Kirchen bauen, forcierte das neue Schulfach »Grundlagen der orthodoxen Kultur« und unterstützte sogar die »Russische Erklärung der Menschenrechte«, die die Gültigkeit individueller Rechte davon abhängig macht, ob sie mit den »Werten des Glaubens« übereinstimmen – eine erschreckende Parallele zur »Kairoer Erklärung der Menschenrechte«, die individuelle Rechte nur unter der Voraussetzung anerkennt, dass sie im Einklang mit der Scharia stehen.
Wie die amerikanische Tea Party setzt sich auch Putin dafür ein, das Modell der christlichen Familie mit einer klaren Rollendefinition von Mann und Frau zu stärken, und sorgte für entsprechende Gesetze gegen »homosexuelle Propaganda«. Und wie die Tea Party pflegt auch der russische Präsident enge Beziehungen zu Rechtspopulisten in aller Welt. Nicht zuletzt deswegen wird Putin von Marine Le Pen als Verteidiger des »christlichen Erbes der europäischen Zivilisation« gefeiert, der, wie sie meinte, seine enormen Führungsqualitäten bereits dadurch beweise, dass er sich der »internationalen Homo-Lobby« (!) nicht unterwirft.
Die Internationale der Nationalisten
Steve Bannon hat den Erfolg der Rechtspopulisten schon 2014 antizipiert und 2016 mit Donald Trump auf das richtige Pferd gesetzt. Dennoch war seine Charakterisierung des internationalen Rechtspopulismus als »globale Tea Party-Bewegung« irreführend. Denn längst nicht alle rechtspopulistischen Kräfte folgen dem marktliberalen Programm der Amerikaner so getreu wie die deutsche AfD. Dies zeigt schon das Beispiel Wladimir Putins, der in seiner Politik auf eben jenen »starken Staat« setzt, den Bannon, Trump & Co. weitgehend zerschlagen wollen.
Die große Schnittmenge der Rechtspopulisten liegt daher nicht im Wirtschaftskonzept, sondern in der politischen Instrumentalisierung sogenannter »religiöser und nationaler Werte«. Dabei steht in den westlichen und osteuropäischen Ländern tatsächlich die Verteidigung des »christlichen Abendlandes« im Vordergrund, doch dies ist keineswegs überall der Fall. Steve Bannon selbst ging 2014 in seiner Vatikan-Rede auf den überwältigenden Wahlsieg von Narendra Modi in Indien ein, der seine Politik ebenfalls auf Nationalismus und Religion gründet – nur dass er sich auf die Werte des traditionellen Hinduismus bezieht statt auf das Christentum. Hätte Bannon nur ein Stückchen weiter geschaut, hätte er einräumen müssen, dass die religiös-nationalistische Strategie, die er einfordert, jenseits des weltanschaulichen Grabens, nämlich in der islamischen Welt, längst angewandt wird. Im Grunde wäre der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein leuchtender Repräsentant der »globalen Tea Party-Bewegung« – würde er nicht das falsche Land und die falsche Religion vertreten.
Dies wiederum zeigt, dass die »Tea Party-Bewegung« keineswegs so »global« ist, wie Bannon meinte. Weltumspannend ist vielmehr die »Internationale der Nationalisten«, die sich in den letzten Jahren formiert hat. Statt mit einer »globalen Tea Party« sind wir mit dem Aufstieg eines neuen jüdischen, christlichen, muslimischen und hinduistischen Nationalismus konfrontiert, der in den einzelnen Ländern mit unterschiedlichen konfessionellen Schwerpunkten auftritt: katholisch in Polen, Ungarn und Frankreich; protestantisch in den USA, in England und der Schweiz; orthodox in Russland, Griechenland und Serbien; sunnitisch in der Türkei, in Ägypten und Saudi-Arabien; schiitisch im Iran, im Irak und in Syrien.
Bekanntlich sind einige dieser Fraktionen heftig untereinander verfeindet – und doch verbindet sie eine große Gemeinsamkeit. Denn sie alle richten sich gegen die kulturellen Begleiterscheinungen der Moderne, gegen Liberalisierung, Pluralisierung, Individualisierung, Säkularisierung, gegen die Rechte von Frauen und Schwulen, gegen den weltanschaulich neutralen Staat, gegen die Prinzipien der offenen Gesellschaft. Mit einem Wort: Sie sind politische Auffangbecken für diejenigen, die mit den beschleunigten Veränderungszyklen der globalisierten Welt nicht Schritt halten können und alles daran setzen, ihr angestammtes kulturelles Getto gegen das vermeintlich »Feindliche« des "Fremden" zu verteidigen.
Was tun?
Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, würden nun auch die Westeuropäer dem globalen Trend zur geschlossenen Gesellschaft folgen. Angesagt ist vielmehr das exakte Gegenteil: Wir müssen uns noch stärker für die Prinzipien der offenen Gesellschaft einsetzen, müssen uns noch entschiedener zu den Idealen der Freiheit, Gleichheit, Individualität und Säkularität bekennen, müssen noch sehr viel deutlicher artikulieren, dass es für den Wert eines Menschen völlig unerheblich ist, an welchen Gott er glaubt oder ob er überhaupt an einen Gott glaubt, ob er hetero- oder homosexuell veranlagt ist, ob er dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen ist (oder keinem von beiden), ob er eine helle oder dunkle Hautfarbe hat, ob er alt oder jung ist, ob er in eine reiche oder arme Familie hineingeboren wurde oder ob seine Eltern aus der direkten Nachbarschaft stammen oder aus einem völlig anderen Teil der Welt.
Vor allem gilt es heute, die Ursachen zu bekämpfen, die zum Aufstieg der Internationale der Nationalisten geführt haben, nämlich soziale Ungerechtigkeit und mangelhafte Bildungssysteme. Wir müssen die Schere zwischen Arm und Reich schließen, um höhere Chancengleichheit zu schaffen. Und wir müssen unsere Schulen dringend dahingehend reformieren, dass sie den Kindern und Jugendlichen das intellektuelle Rüstzeug geben, um zwischen rationalen und irrationalen Argumenten unterscheiden zu können.
Wahrscheinlich könnten wir fundamentalistische Wahnideen schon allein dadurch bekämpfen, dass wir der Evolutionstheorie eine größere Bedeutung in den schulischen Lehrplänen einräumen. Es ist ja kein Zufall, dass gerade sie in so vielen rechtspopulistisch geführten Ländern (u.a. in der Türkei, in Russland und den USA) diskreditiert wird. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wer die Geschichte der Evolution verstanden hat, der begreift auch, dass Religionen und Nationen bloß soziale Konstrukte sind, die eine wesentliche Tatsache des Lebens verdecken, nämlich dass uns untereinander sehr viel mehr verbindet als trennt, da wir allesamt einer einzigartigen, großen Familie angehören, deren Ahnenreihe sich bis zu den ersten Einzellern vor mehr als dreieinhalb Milliarden Jahren zurückverfolgen lässt.
Die Vermittlung der Evolutionstheorie ist zweifellos ein hervorragendes Instrument, um den »postfaktischen Erzählungen« religiös-nationalistischer Ideologien entgegenzuwirken. Mindestens ebenso bedeutsam ist es jedoch, dass wir das Profil des weltanschaulich neutralen Staates schärfen, der in sehr viel stärkerem Maße als bisher sicherstellen müsste, dass die Religionen nicht über dem Gesetz stehen, sondern sich dem für alle geltenden Recht unterordnen müssen.
Gegen die mythische Überhöhung der Nation wiederum hilft bereits die Aufklärung darüber, wie viel ärmer wir heute allesamt wären, wenn uns nur die Produkte »unserer eigenen Nation« zur Verfügung stehen würden. Nicht ohne Grund heißt es: Dummheit und Stolz wachsen auf demselben Holz - und dies gilt insbesondere für den sogenannten »Nationalstolz«: Wer nicht völlig scheuklappenblind durch das Leben geht, der sollte wissen, dass nahezu alle großen Errungenschaften der Menschheit (ob nun in der Wissenschaft, der Technik, der Medizin, der Kunst, der Ethik oder Politik) auf interkulturelle Zusammenarbeit zurückzuführen sind.
Nicht voreilig resignieren!
Angesichts von Trump, Putin, Erdogan & Co (...) und der vielen ungelösten ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme der Welt, ist es verständlich, dass viele Menschen pessimistisch in die Zukunft blicken. Allerdings sollte eine solche Stimmungslage den Blick auf die Realität nicht verzerren. Tatsächlich lässt sich nämlich anhand harter empirischer Daten zeigen, dass die Menschheit nicht nur in den letzten Jahrhunderten, sondern auch in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte erzielt hat. (...)
Weil wir negativen Nachrichten im Allgemeinen sehr viel höhere Aufmerksamkeit schenken, sind die vielen positiven Entwicklungen, die in der jüngeren Vergangenheit stattgefunden haben, den allermeisten Menschen nicht bewusst. Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine faktenbasierte Sicht der Welt uns zu einer vorsichtig optimistischen Einschätzung der globalen Lage führen sollte. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, voreilig zu resignieren.
Letztlich ist sogar der Aufstieg der Rechtspopulisten ein untrügliches Zeichen dafür, wie groß der Fortschritt der letzten Jahrzehnte war. Denn der religiöse Fundamentalismus ist nicht zuletzt eine Reaktion auf das zunehmende Schwinden unhinterfragbarer religiöser Fundamente – wie auch der Nationalismus eine Reaktion darauf ist, dass nationale Identitäten in einem globalen Dorf, in dem die Menschen frei miteinander kommunizieren, an Bedeutung verlieren. Um es auf die deutschen Verhältnisse herunter zu brechen: Die AfD, die man als deutsches Pendent zur Tea Party begreifen kann, existiert nur deshalb, weil die Prinzipien der Weltoffenheit mittlerweile selbst bei der CDU angekommen sind und einige ihrer führenden Vertreter heute Positionen vertreten, die vor 20 Jahren selbst die progressivsten Sozialdemokraten kaum öffentlich geäußert hätten.
Es liegt an uns, welche Entwicklungen wir stärker gewichten: Das Jahr 2015, in dem Donald Trump seine [erste] Kandidatur für das Präsidentenamt bekannt gab, war zugleich das Jahr, in dem die Vereinten Nationen ihre »Global Goals« (»globale Ziele« wie die Beseitigung der weltweiten Armut, Bildung für alle, Gleichberechtigung der Geschlechter etc.) in Anwesenheit von über 150 Staats- und Regierungschefs verabschiedeten. Dies war das erste Mal in der gesamten Geschichte unserer Spezies, dass sich die Menschheit auf allgemein gültige Ziele einigte und zu ihrer Erreichung eine planetare Zusammenarbeit vereinbarte! (Wer hier einwendet, diese noblen Ziele stünden doch bloß auf dem Papier, der sollte Ludwig Marcuses kluge Einsicht beachten: Tatsächlich ist es sehr viel besser, »das Gute steht nur auf dem Papier – als nicht einmal dort!«)
Viele mutige, kluge Menschen quer durch alle Nationen und Kulturen setzen sich heute dafür ein, dass aus der Utopie einer freieren, gerechteren Welt Wirklichkeit wird. Menschen wie der saudische Blogger Raif Badawi, der für die Achtung der Menschenrechte kämpfte und dafür zu 10 Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt wurde. Sie bilden ein starkes Gegengewicht zu den reaktionären Kräften, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Wer sich am Ende durchsetzen wird? Das weiß niemand, aber es hängt nicht unwesentlich davon ab, wie wir uns selbst entscheiden: Lässt es uns kalt, dass die offene Gesellschaft auf dem Spiel steht, oder begehren wir dagegen auf? Wünschen wir uns zurück in die vermeintlich »gute alte Zeit« oder engagieren wir uns für eine bessere Zukunft? Stärken wir die Idee der einen Menschheit oder verlieren wir uns in nationalen und religiösen Egoismen? Das nächste Kapitel in der Geschichte der Menschheit ist noch nicht geschrieben – wir haben die Wahl.
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