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"Bisweilen wünschte ich mir, ich wäre ohne Hirn unterwegs..."

Auszug aus Andreas Altmanns neuem Buch "Verdammtes Land" anlässlich des "Worldwide Day of Genital Autonomy"

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Piper Verlag

Das Landgericht Köln hat am 7. Mai 2012 Jungen das Recht auf genitale Selbstbestimmung zugesprochen und die medizinisch nicht indizierte Knabenbeschneidung als strafbare Handlung verurteilt. Inzwischen ist das Urteil weltweit zu einem Symbol für die Selbstbestimmungsrechte des Kindes  unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Tradition geworden. Anlässlich des "Worldwide Day of Genital Autonomy" am 7. Mai veröffentlichen wir einen Auszug aus dem aktuellen Buch von Andreas Altmann (Mitglied im gbs-Beirat), der in "Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina" klare Worte zur jahrtausendealten Unsitte der Beschneidung fand.

 

 

 

Auszug aus Andreas Altmann: "Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina" (Piper 2014, S. 225ff.) mit freundlicher Genehmigung des Autors:

>> Am Abend sinkt der Glücksstern. Ich sitze auf der Terrasse von Claires einsamem Hotel, vier Meter von den neun Meter hohen Mauern entfernt, und will meine Gedanken sortieren – angeregt durch einen Bericht auf BBC: Vor Kurzem hat das Landgericht Köln die Beschneidung aus religiösen Gründen als Körperverletzung verurteilt. Und stellt den Brauch ab sofort unter Strafe. Eine mutige, ja, bravouröse Entscheidung. Die sowohl in Deutschland als auch hier in Israel seit Wochen heftig debattiert wird. Der erste Skandal ist natürlich, dass über ein Brauchtum aus der Steinzeit noch diskutiert werden muss. Aber so sind die Zeiten: Erbarmen für uns alle, wenn die Religiösen aufmucken und nach uns, den Herrgottlosen, ausholen.

Ich will ein bisschen persönlich werden. Ich wurde – ohne dass je einer mich fragte – als Katholik getauft. (Wie Milliarden vor mir, auch ungefragt.) Dieser mutwillige Akt war „lebensrettend“: Denn ich hatte ja das Licht der Welt als Todsünder erblickt und nur das „Sakrament der Taufe“ konnte mich davor bewahren – im Falle meines Todes –, umweglos in der Hölle zu landen. Denn die erste Bosheit, die ich als Neuling zu verstehen hatte, lautete: Du, Andreas, bist als lasterhafter Mensch auf die Welt gekommen! Folglich schüttete der Pfaffe Wasser über meine Fontanellen. Um mich zu retten. Wer diesen höllischen Schwachsinn einmal durchschaut hat, wird ab diesem Zeitpunkt hellhörig, wenn er aus obskuren Ecken die Wahrsager und Gottesmänner ihre letzten Weisheiten wispern (oder brüllen) hört.

Und so erfährt nun die Weltöffentlichkeit, dass ein Rabbi das Gerichtsurteil als „den größten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust“ betrachtet. Ein anderer erinnert daran, dass „die Beschneidung das Band zu Abraham, ja, Gott“ darstellt. Ein Dritter lässt uns wissen, dass das Abtrennen der Vorhaut „Symbol für die ewige Verpflichtung dem Allerhöchsten gegenüber“ sei. Bisweilen wünschte ich mir, ich wäre ohne Hirn unterwegs. Dann hätte ich weniger Kopfschmerzen, dann müsste ich nie Hirnlosigkeiten zur Kenntnis nehmen.

Warum muss wahr sein, was vor Tausenden von Jahren (angeblich) wahr war? Warum sind wir, die Vorhautbesitzer, noch immer nicht – hundertmillionenweise – an all den Schrecken verstorben, die uns von jenen vorhergesagt wurden, die des Allwissenden letzte medizinische Ratschläge kennen?

Immer wieder führen die Vorhautweg-Begeisterten die Überlieferung als Argument an. Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, mahnt gleich viertausend Jahre an, in denen munter und gottergeben am Babypenis herumlaboriert wurde. Denn was viertausend mal 365 Tage geschah, kann nicht falsch sein. Die Konvention als Gütesiegel der Wahrheit. Das klingt nach halsbrecherischer Beweisführung. So halsbrecherisch wie der gottesfürchtige Glaube unserer Vorfahren, dass die Erde eine Scheibe ist. Siehe „Altes Testament“. Und dass wir der Mittelpunkt des Universums sind (denn hierher kam der Messias!). Und dass ein Volk vom Herrgott, vom jüdischen, auserwählt wurde und dass ein anderer Herrgott, diesmal der katholische, die Menschheit mit dem „allein selig machenden Glauben“ beglückt hat. Und dass die Frau dem Mann untertan ist. Und dass „Neger keine Seele“ haben. Und dass Herr Mohammed über Nacht von Mekka nach Jerusalem geflogen ist (und anschließend senkrecht gen Himmel schoss). So um 621. Ad infinitum absurdum.

Schon erstaunlich: Es reicht nicht, dass einem Kind von der Stunde null an, noch bevor es sich eigenhändig den Hintern putzen kann, die Spielregeln des himmlischen Obskurantismus eingebimst werden, nein, man muss ihm auch noch physisch zusetzen und ihm ein Stück Körper abschneiden. Religion war schon immer der Garant für eine glasklare Sicht auf die Wirklichkeit. Warum soll es jetzt beim Blick auf die Vorhaut anders sein? Der Hautfetzen eines Achttägigen – am achten Tag muss die Körperverletzung vollzogen werden – ist das unumstößliche Freundschaftspfand mit dem Weltenschöpfer. Ohne das will er kein Freund sein.

Federführend war wieder einmal der Unvermeidlichste tätig, Herr Abraham, der allen gemeinsame Urvater. Deshalb maulen auch die Muslime über das Gerichtsurteil. Laut muslimischer Wahrheit hat sich der Achtzigjährige – Friede sei mit ihm – selbst beschnitten. Mit der Axt. Denn gemäß dem biblischen Selfmademan gehörte das zur „göttlichen Menschwerdung“. Die Christen waren schlauer, vielleicht wehleidiger. Sie versprachen abtrünnigen „Irrgläubigen“, sprich Juden und „Mohammedanern“, die Befreiung von der Barbarei der Beschneidung. Falls sie überlaufen sollten. Neue Christenmenschen durften ab sofort vollständig vor den Allmächtigen treten.
Man könnte all das mit wieherndem Vergnügen zur Kenntnis nehmen. Wäre es nicht blutig ernst. Wie so oft, wenn Religion die Marschrichtung vorgibt.

Vor ein paar Jahren war ich als Reporter Zeuge einer Beschneidung. In Kairo. Im feuchten Gruselkabinett von Doktor“ Abdul saß der fünfjährige Ehab auf einem Stuhl. Ein Muskelmann zog seine beiden Knie auseinander und ein zweiter packte die beiden Arme. Dann griff der joviale Quacksalber zur Schere – immerhin desinfizierte er vorher sein „Skalpell“ und den anvisierten Körperteil – und schnitt ab. Der Knirps war jetzt ein „Mann“ und ein „gottgefälliger Muslim“. Ehabs gellende Verzweiflung war Kronzeuge dieses, wörtlich, in den Himmel schreienden Irrsinns. Gut, in Deutschland wird anders operiert. Aber wer sich Youtube-Beiträge medizinisch moderner Eingriffe – je weniger Betäubung, desto gottergebener – an einem wehrlosen Wesen anzuschauen wagt, bekommt eine Ahnung von der grauenhaften Pein, die sich Äxte schwingende Propheten für ihre Nachkommen ausgedacht haben.

Ich will noch persönlicher werden. Über achtzehn Jahre lang wurde ich von Erwachsenen an Leib und Seele misshandelt und gedemütigt. Von römisch-katholischen „Seelsorgern“, von anderen „Erziehungsberechtigten“, von meinem Vater. Bis ich davonlief. Mit all dem Dreck der Todsünde, des Körperhasses, des Selbsthasses im Kopf. Und davonlief mit dem Schwur im Herz, dass ich sofort zu den Waffen greife, wenn ich von Zeitgenossen höre, die glauben, dass Kinder auf die Welt gekommen sind, damit sie, die „Vormünder“ – ob nun von kranker Lust oder spirituellen Halluzinationen getrieben –, ihre Machtphantasien an ihnen, den Bevormundeten, ausleben können. Stopp! Hände weg vom Kinderkörper! Außer jenen, die ein Kind lieben und behüten. Einen Zehnjährigen zu prügeln ist so abartig, wie einen Säugling an seinem Glied zu verstümmeln.

Damit wir uns millimetergenau verstehen: Ist das Kind volljährig, dann soll es entscheiden, wie immer ihm zumute ist. Es, genauer: er, kann sich dann alles wegschneiden, as he likes it. Mit dem Cutter oder der Kettensäge oder mit Messer und Gabel. Er kann sich aber auch jeden Monat bei Vollmond das Haupthaar abbrennen. Oder einen lila gefärbten Stacheldraht durch beide Ohren ziehen. Irgendeinen Irren auf Erden wird der Erwachsene gewiss finden, der ihm von einem Himmelsfürsten deliriert, der derlei Taten mit Wohlgefallen zur Kenntnis nimmt. Aber bis es soweit ist, dem vollendeten 18. Lebensjahr, verschone man das Kind mit den Schrecken aus der Folterkammer religiöser Initiationsriten. Man predige ihm dafür, sieben Tage die Woche, die menschen(vor)hautschonenden Spielregeln des Humanismus.

Noch ein Nachwort: Der Brauch der Beschneidung ist heute in Israel ebenfalls schwer umstritten. Vor Tagen stand in der Presse ein mehrseitiger Artikel, in dem Israelis zu Wort kamen, die sich jeden Zugriff auf ihre private parts verbieten. Oder sich über die bereits vollbrachte Tat wütend beschweren. Das ist ein gutes Zeichen, es zeigt wieder einmal, dass Israel auch ein ganz „normales“ Land ist: Mit Dunkelbirnen und den Hellen im Kopf, jenen eben, die versuchen, den Finsteren heimzuleuchten. <<